Der unwirkliche Traum

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Er sieht blass aus. Zu blass. Und er hat eingefallene Wangen. Möglich, dass es auch nur so aussieht, weil er an tausend Geräte angeschlossen daliegt. Die Decke sorgfältig über ihn gelegt, als hätte er sich noch kein einziges Mal bewegt. Als wäre er einfach nur eine leblose Schaufensterpuppe, die man wie einen strammen Soldaten in ein Bett gelegt hätte.

Doch er ist keine einfache leblose Schaufensterpuppe. Das vertraute, monotone Fiepen des Monitors, der die Herztöne überwacht, bestärkt mich darin.

Es ist so unwirklich. Es ist als würde ich nicht begreifen, was ich da sehe. Dass er, der mir all die Tage und Wochen so Mut gemacht hat, mich in allem bestärkt und unterstützt hat, dem Tode nahe dort liegt. Anders als je zuvor.

Das ist nicht echt.

Das kann nicht echt sein.

Das ist nur einer meiner irren Träume und ich werde gleich bestimmt aufwachen und zum Frühstück gehen. Er wird dort auf mich warten. Mich charmant anlächeln, wie er es jedes Mal tut. Er wird mir durch die Haare wuscheln, meine Frisur zerstören und ich werde mich darüber aufregen. Obwohl wir beide genau wissen, dass ich am Morgen nicht eine Sekunde damit verbracht habe meine Haare ordentlich zu frisieren. Er wird leise lachen und mich fragen wie es mir geht und ich werde ihm von dem verrückten Traum hier erzählen. Dass er auf der Intensivstation lag und ich ganz schockiert gewesen war. Dann wird er mich in den Arm nehmen, mir sagen, dass das nur ein Traum gewesen ist und dann werden wir beide darüber lachen. Vielleicht wird er auch versuchen wollen diesen Traum zu deuten und ich würde rot werden. Und dann würden wir gemeinsam essen und er würde mich ermutigen. Genauso wird es sein.

Wach auf!

Meine Wange ist nass. Ertappt wische ich mir eilig mit dem Ärmel meines Pullovers darüber. Ich weiß, dass es kein Traum ist.

Weinst du etwa?! Du Memme.

Und ein weiteres Mal wische ich mir mit dem Ärmel die aufkommenden Tränen fort. Ich schlucke heftig und setze mich dann in Bewegung. Neben seinem Bett steht ein Stuhl. Dort hat wohl schon jemand gesessen. Hat ihn schon besucht.

Ich vermeide es beim Vorbeigehen auf das Namensschild, welches am Bett klebt, zu blicken. Ich will seinen Namen nicht wissen. Ich brauche seinen Namen nicht zu wissen.

Der Stuhl ist hart, aber das ist egal. Ich würde auch auf tausend Dornen sitzen, wenn ich ihn damit unterstütze. Ich weiß nicht, wie ich es ihm je danken soll, dass er für mich da ist. Jeder Zeit. Ich weiß nicht, wie ich es ihm danken soll, dass er dauernd mit altklugen Weisheiten um sich schmeißt und oft in Rätseln spricht und mich damit zum Lachen bringt. Ich weiß es einfach nicht.

Seine Hand ist eiskalt.

Das ich das überhaupt spüre.

Als wäre sie die meine, so kalt. Ich würde sie gern warmhalten, doch ich weiß, dass ich dazu niemals in der Lage sein werde.

Langsam streiche ich mit dem Daumen über seinen Handrücken. Auf und ab und auf und ab und auf und ab. Wie eine einstudierte Bewegung. Doch sie ist alles andere als einstudiert. So etwas habe ich noch nie getan.

Eine dicke salzige Träne tropft auf seinen Handrücken. Schnell, beschämt, als würde er mich dafür verurteilen, wische ich sie ihm von der kalten Hand. Ein schneller Blick in sein Gesicht versichert mir, dass er es nicht gesehen hat.

Dass er gar nichts davon gesehen hat. Seine Augen sind immer noch zu.

„Geh nicht".

Dass dieser Wunsch aus tiefster Seele kommt, ist mir zu dem Zeitpunkt nicht bewusst.

In 2 Monaten bist du tot!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt