Das Abbild

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Mein Blick fällt auf den gemusterten Laminatboden zu meinen Füßen.

Was habe ich getan?

Das kohlenhydrathaltige Abendessen schwimmt zu meinen Füßen. Halb verdaut und kaum gekaut. Genau dafür ist diese Art von Boden da. Vor allem auf dieser Station. Damit man die Flecken, die die Magensäure hinterlässt nicht so richtig sehen kann.

Mir kommen die Tränen. Ich spüre sie meine Wangen hinunterlaufen und an meinem Kinn herunter tropfen. Sie tropfen auf meine freien Knie. Die Stimme in meinem Kopf hat recht behalten.

Ich bin ein Versager.

Nicht einmal einen Tag ohne ihn schaffe ich. Nicht einmal das kann ich.

Versager sind es nicht Wert!

Ich höre, wie ich die Luft einsauge und setze dann die Füße auf. Sorgfältig direkt daneben. Bloß nicht reintreten. Ich muss das wegmachen. Es soll keiner wissen. Es darf keiner wissen. Auch wenn ich Erbrochenes überhaupt nicht gut sehen kann. Geschweige denn aufwischen. Erneut spüre ich Magensäure an meinem Gaumen, doch einmal reicht.

Ich gehe auf Zehenspitzen tappend ins Bad. Ich werde ein Handtuch nehmen. Ich muss das nur klug verstecken. Dann finden sie es schon nicht. Langsam, wie in Trance, knipse ich das Licht im Badezimmer an. Hell strahlt es jede Ecke des gefliesten Badezimmers aus. Ich greife nach dem Handtuch auf der Heizung. Meine Finger sehen weiß und kalt aus. So dünn wie Zahnstocher. Irgendwie schön.

Ich lösche das Licht hinter mir und tappe zurück zur Pfütze.Ich wische das Erbrochene mit fast geschlossenen Augen auf und schiebe das verschmutzte Handtuch dann unter das Bett. Das müsste fürs Erste reichen.

Das Bett ist ungewohnt hart, als ich mich wieder darauf niederlasse. Wie durch einen Schleier aus Nebel streiche ich über das Laken. Erneut tropfen nasse, salzige Tränen von meinem Kinn.

Ich wische mir mit dem Ärmel über die Nase und über die Augen. An Schlaf kann ich nicht denken. Ich muss etwas anderes tun.

In solchen Situationen, solchen Gefühlslagen, ist er immer dagewesen.

Doch er ist jetzt nicht da!

Er liegt in der Intensivstation und kann nicht einmal mit mir sprechen. Geschweige denn mich in den Arm nehmen und mir Mut einreden.

Ich schließe seufzend die Augen. Ohne absichtlich daran gedacht zu haben, erscheint sein Abbild vor meinem inneren Auge.

Dass mir dieses Abbild das Leben rettet, ist mir zu dem Zeitpunkt nicht bewusst...

In 2 Monaten bist du tot!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt