Der Akt der Freundschaft

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„Oskar?"

Es ist Schwester Lenas Stimme, die so warm und sanft in meinem Ohr klingt. Ich öffne meine Augen und murre leise dabei. Mein Nacken tut weh und mein Rücken auch. Ich bin wohl eingeschlafen.

Eingeschlafen? Wo?

Auf der Intensivstation.

Bei ihm!

Sofort bin ich hellwach. Starre erwartungsvoll auf das Bett vor mir.

Er ist weg.

Ich bin so unglaublich schnell auf den Beinen, dass meine Freunde, die bunten Punkte, wieder vor meinen Augen tanzen. Kurz taumle ich, doch das ist mir egal. Der einzige Gedanke, den ich gerade in meinem Kopf habe und wie ein beruhigendes Mantra immer wiederhole ist:

Wo ist er?!

Nur beruhigt es mich nicht im Geringsten. Eher im Gegenteil. Je länger die Schwester schweigt, desto unruhiger werde ich.

„Sie mussten notoperieren. Er ist gerade erst raus", erklärt sie mir leise. Ich sehe ihr deutlich an, wie schwer es ihr fällt die Worte über ihre Lippen zubringen. Ihre leicht glasigen Augen sprechen Bände.

„Ich ...", setze ich mit dünner und zittriger Stimme an. „Ich möchte warten", fahre ich dann fort. Es ist keine Bitte. Das ist klar, doch sie schüttelt dennoch den Kopf.

„Du musst etwas essen, Oskar. Das Mittagessen steht an. Du darfst keine Mahlzeit verpassen. Ich kann nur ahnen, wie schwer dir das jetzt fallen muss, aber du musst an dich denken", sagt sie und versucht mir ein warmes Lächeln zu schenken.

Wie kann sie nur erwarten, dass ich jetzt an Essen denken kann? Dass ich überhaupt an Essen denken kann. Außerdem denke ich immerzu an mich.

Ich denke daran, dass ich zu fett bin. Dass ich abnehmen sollte. Dass meine Haare hässlich sind. Dass meine Beine zu dick sind. Dass ich zu nichts in der Lage bin. Ich denke sehr oft an mich und über mich nach. Das kann mir keiner vorhalten.

Ist es denn so verwerflich, dass ich jetzt zu ihm will? Für ihn da sein will? Wo er es doch auch für mich war.

Ich blicke sie an. „Ich kann nicht". Es ist ein Hauchen. Mehr bringe ich nicht zustande. „Oskar du musst. Du kannst ohnehin nichts tun, wenn sie ihn operieren. Du weißt das", redet sie mir gut zu.

Ja, natürlich weiß ich das. Ich bin hier fast länger als jeder andere. Ich weiß, wie das hier läuft. Aber kann sie nicht verstehen, dass ich nicht kann.

„Ich hole dich sofort, wenn sie fertig sind, aber nur wenn du auf deine Station zurückkehrst und etwas isst".

Das ist Erpressung. Geh nicht drauf ein! Oder willst du fett werden?

Ich nicke leicht.

Du Narr! Das wirst du bereuen. Ich schwöre es dir!

Sie streckt die Hand nach meiner aus. Kein Akt der Vertrauensgewinnung.

Ein Akt der Freundschaft.

Dass sich diese Freundschaft vertiefen wird, ist mir zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst.

In 2 Monaten bist du tot!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt