Die Belastung

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„Du lebst ja noch", vernehme ich eine raue, bekannte Stimme. Ich öffne meine Augen und blicke in zwei wunderschöne, klare, aber dennoch traurige Augen.

Es ist der junge Mann mit der Wollmütze aus der Onkologie. Ich kann nicht verhindern, dass mir die Hitze etwas in den Kopf schießt und sich meine Mundwinkel nach oben ziehen.

„Sieht so aus", bringe ich kratzig hervor. Es ist mehr als Witz gemeint. Doch so kommt es nicht an. In der hellen Intensivstation mit all den Geräten wirkt mein Humor dumpf und unangebracht.

Was machst du auch Witze, du Fettsack?!

Ich schlucke meine Gedanken wie eine bittere Pille herunter.

„Ich nehme an das sind deine Eltern eben gewesen?" fragt er und schenkt mir ein Lächeln. Ich nicke. „Meine Mutter und mein Stiefvater", gestehe ich ihm. Ich will ihm nicht erzählen müssen, dass dieser Mann mich hasst. Dass er mir den Tod wünscht und, dass die Stimme in meinem Kopf manchmal der seiner ganz ähnlich klingt. Ich möchte es nicht. Aber ich würde ihm alles erzählen. Ausnahmslos. 

Wenn er darum bitten würde.

Ich bin mir zu hundert Prozent sicher, dass ich ihm nichts, rein gar nichts, abschlagen könnte, wenn er mich um etwas bitten würde.

„Du magst sie nicht besonders oder?" fragt er weiter. Keine Sekunde lang hat er den Blick von mir genommen, während ich den Raum schon fünfmal gescannt habe, inklusive ihn selbst. „Sie", setze ich an und beiße mir auf meine Lippe. „Sie sind okay", sage ich. „Was liegt dir auf dem Herzen, Kleiner? Halte mich nicht für blöd. Im Krankenhaus lernt man schnell andere zu lesen. Also? Was bedrückt dich? Du kannst mir alles sagen, das weißt du?".

Kann es wirklich sein, dass er mindestens genauso viel Vertrauen zu mir geschöpft hat in der kurzen Zeit, wie ich zu ihm? Kann das wirklich sein?

„Sie hassen mich", murmele ich und blicke auf meine Hände. Meine blassen, kalten Hände. Schimmernde bunte Punkte tanzen vor meinen Augen. „Sag sowas nicht. Wer könnte dich hassen?". „Sie tun es. Ich bin eine Belastung für sie", fahre ich fort. Heiß brennen die Tränen auf meinem Gesicht. Eilig wische ich mit meiner Hand darüber. Sie ist eiskalt. „Haben sie das gesagt?". Ich nicke. „Für mich bist du keine", fügt er hinzu und schenkt mir ein weiteres Lächeln.

Der redet nur! Bilde dir ja nichts darauf ein. Du bedeutest ihm nichts. Du bedeutest niemandem etwas!

„Aber soll ich dir sagen für wen du eine Belastung bist?" setzt er seine Worte fort. Verwirrt hebe ich den Blick von meinen Fingern und sehe ihm in die Augen. „Für wen?" frage ich. Er streckt seinen Zeigefinger aus und tippt mir auf meine Brust. Es ist sachte und dennoch tut es mir weh und ich bin mir sicher, dass es einen blauen Fleck geben wird. Genau dort, wo sein Zeigefinger meine Brust berührt hat. „Für dich, Kleiner", sagt er ruhig.

Dass er mit dem Gespräch alles ins Rollen bringen würde, ist mir zu dem Zeitpunkt nicht bewusst.

In 2 Monaten bist du tot!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt