Die Madison-Karte

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Ich reibe mir den Kopf und schaue auf einen leeren Punkt direkt vor mir. Ich sitze im Therapieraum und habe die Knie an meinen Oberkörper gezogen. Es findet zwar gerade keine Therapie statt, aber das ist der einzige Raum, der nicht der Speisesaal ist und nicht mein Zimmer ist, den ich sonst noch betreten darf. Nach draußen darf ich ja A nur mit Erlaubnis und B mit Begleitung.

Ätzend!

Zwei andere Mädchen sitzen ebenfalls auf zwei Stühlen im Raum. Allerdings haben sie mir den Rücken zugewandt und tuscheln leise mit einander. Ich versuche mir einzureden, dass es dabei nicht um mich geht. Schließlich haben die Damen doch wohl auch eigene Probleme. Oder nicht?

Sie reden ganz bestimmt über dich! Über wen sollen sie sonst reden? ER hat bestimmt allen erzählt, dass du dich gestern in ein Pissoir erbrochen hast. Wie erbärmlich kann man nur sein, Oskar?!

Mit einem leisen Murren ziehe ich meine Knie noch enger an meinen Oberkörper. Ich bezweifle, dass das überhaupt möglich war.

Nachdenklich lege ich mein Kinn auf meine Knie und fokussiere wieder den Punkt vor mir.

Es ist die Tür, die sich quietschend öffnet, die mich aus den Gedanken reißt. Ich sehe auf und erblicke, scheinbar entgegen meiner inneren Erwartungen, Schwester Lena. Sie lässt den Blick durch den Raum schweifen und sieht mich dann an. Mehr als drei Leute gibt es hier in dem Raum ja auch nicht.

„Oskar, wir müssen reden", sagt sie. Sie sagt es nicht, wie sonst, in einem lieben besorgten Ton. Nein. Diesmal ist es anders. Sie wird keinen Widerspruch dulden. Es ist ernst. Diesmal ist es ihr ernster als sonst.

Ich habe es dir doch gesagt! Du kannst dem Kerl nicht vertrauen!

Ich schlucke und lasse gleichzeitig meine Füße vom Stuhl rutschen. Mit einem lauten Rums kommen meine Füße auf dem Krankenhausfußboden auf. Augenblicklich wird meine Brust kalt. Der Druck meiner zu dicken Oberschenkel fehlte ihr. „Was gibt es denn?" frage ich und die Stimme vibriert in meinem Brustkorb. Vielleicht zittert sie auch. Ich kann es nicht genau sagen.

„Nicht hier", sagt sie und reicht mir ihre Hand zum Zeichen, dass sie mich an einen anderen Ort bringen will. Sie will ungestört reden.

Verunsichert und auf die Lippe beißend greife ich nach ihrer Hand und lasse mich von ihr nach oben ziehen. Gemeinsam laufen wir den Flur hinunter. Ihre Schritte sind schnell, konzentriert. Sie ist angespannt. Das sind keine guten Nachrichten, die sie mir überbringen wird. Aber wann habe ich das letzte Mal gute Nachrichten von ihr bekommen? Ich hingegen schlurfe förmlich den Flur entlang. Als wolle ich das Ziel herauszögern und das will ich auch. Egal wie neugierig ich gerade auch bin, ich will nicht hören, was Schwester Lena mir zu sagen hat. Es ist nichts Gutes. Und nichts Gutes kann ich jetzt nicht gebrauchen.

Es ist das Schwesternzimmer zu dem sie mich führt. Ein ungewöhnlicher Ort. Ich habe damit gerechnet, dass sie mich in mein eigenes Zimmer bringt, doch dafür sind wir schon am Anfang verkehrt gelaufen. Warum habe ich das dennoch geglaubt?

Sie bietet mir einen Stuhl an, den ich auch dankbar annehme, denn lange laufen ist nicht mein Ding. Sie setzt sich mir gegenüber.

„Du hast dich gestern erbrochen?" fragt sie. Sie fällt direkt mit der Tür ins Haus. Kein >>Wie geht es dir?<< oder dergleichen. Ich sehe sie schuldbewusst an. Sie braucht keine Antwort von mir. Er hat es ihr wirklich gesagt.

„Er meint es nur gut. Er will dir helfen", fährt sie fort, als hätte sie meine Gedanken lesen können.

„Ich brauche keine Hilfe", höre ich mich sagen. Es klingt albern. Wie ein störrisches, kleines, verzogenes Kind.

Ich kann alleine abnehmen!

„Oskar, du weißt, dass das nicht stimmt. Das, was du deinem Körper antust ist gar nicht gut. Er braucht die Nährstoffe. Außerdem haben wir ja gesehen wie du es liebst Zwangsernährt zu werden", meint sie und sieht ich vorwurfsvoll an. Ich verschränke nur trotzig die Arme vor der Brust.

„Merkst du nicht, dass du massiv abbaust? Muss es erst soweit kommen, dass du nicht mehr alleine richtig laufen kannst? Oder schlimmer".

Ich weiß genau worauf sie anspielt und es ist unfair. Es ist unfair mir gegenüber. Es ist unfair ihr gegenüber. Das macht man einfach nicht. Das schickt sich nicht. Da soll sie glauben, dass es noch so effektiv ist. Und ich kann nicht glauben, dass sie das tut.

Schwester Lena spielt die Madison-Karte.

Dass dieses Gespräch effektiver war, als ich zu dem Zeitpunkt annahm, will ich bis heute nicht einsehen.

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