„Nicole, ich..." Henri beugt sich vor.
Unsere Köpfe berühren sich beinahe. Erwartungsvoll beginnen meine Lippen zu brennen. Henri zieht mich zu sich heran und ich wünsche mir, dass er den Abstand zwischen uns endlich verringert, wie das in Liebesfilmen gezeigt wird.
„Baby, Baby, Baby", erschallt es laut, worauf ich erschrocken zusammenzucke.
Irritiert blickt mich Henri an. „Du bist nicht ganz dicht, oder?"
Beschämt sehe ich ihn an. „Baby, Baby, Baby, ooh" macht mein Wecker mit einem Justin Bieber Lied weiter.
Innerhalb kürzester Zeit sitze ich senkrecht im Bett.
Das kann doch nicht wahr sein!
So kurz davor! Wütend schlage ich auf die Snooze-Taste dieses dämlichen Weckers. Meine Mutter hat ihn mir geschenkt mit der Erklärung: „Da wachst du gleich mit einer prima Laune auf, Mäuschen!"
Jetzt hat mir dieser dämliche Wecker meinen ersten Kuss verdorben!
Düster starre ich an meine Decke.
Wann wird Henri mich endlich bemerken?
Henri, der interessanteste und coolste Typ der Schule, ist meiner Verliebtheit leider hoffnungslos ausgesetzt. „Nicimaus!", werde ich von meiner Mutter aus meinen Tagträumen gerissen. Kann sie diesen Spitznamen nicht endlich lassen? „Nicimaus, Frühstück, Schule!" Langsam steige ich aus meinem warmen Bett, ziehe ein T-Shirt und einen Jeansrock aus meinem Kleiderschrank, stapfe zum Frühstückstisch und lasse mich auf einen Stuhl plumpsen. Während ich halbherzig mein Rührei esse, werkelt meine Mutter irgendwo in der Küche herum.
„Nici, du bist zu spät!", ermahnt mich meine Mutter.
„Jaja." Meine Stimme klingt maulig, so wie ich mich gerade fühle. Immerhin war mein Traum nahezu perfekt. Ich bin genauso früh wie immer, warum muss meine Mutter mich immer so kontrollieren? Meine Mutter verabschiedet sich und macht sich auf den Weg zur Arbeit, mein Vater ist längst weg, also bin ich allein. Seltsamerweise habe ich noch massig Zeit, daher mache ich vor der Schule noch einen Abstecher in meinen Lieblingsbuchladen um die Ecke und schaue, ob das Buch, ein großer Bildband über die Werke von Jane Austen, noch da ist. Ich spare immer noch darauf, weil er einfach zu teuer ist. Sehnsüchtig streiche ich über das Cover und die Seiten, wiege den Bildband in der Hand und stelle ihn enttäuscht ins Regal zurück. Ich schließe mein Fahrrad vor dem Laden auf und fahre in Richtung Schule, genieße den frischen Wind und die ersten Sonnenstrahlen. Auf dem Pausenhof schließe ich mein Rad ab und stapfe in die Schule, wobei ich erst meinen Rucksack im Fahrradkorb vergesse und wieder zurück muss, um ihn zu holen. Als ich das Gebäude betrete fällt mir auf, dass keine Menschenseele zu sehen ist. Das ganze Gebäude ist still und die Flure leer. Nur in den umliegenden Klassenzimmern herrscht gedämpftes Stimmengewirr. Bin ich etwa doch zu spät? Wieso ist niemand auf dem Flur? Ich blicke ungläubig auf meine Armbanduhr und stelle fest, dass ich noch fünf Minuten bis Unterrichtsbeginn habe. Nervös gehe ich den leeren Flur in Richtung Physiksaal entlang, in der ich nun eine Doppelstunde Kraft und Impuls aushalten muss. Es läutet. Jetzt aber schnell! Ich sehe Jasmin vor mir in den Saal gehen, jedoch ohne Rucksack. Wieso zur Hölle ohne Rucksack?! Ich will gerade, nachdem Jasmin durch die offene Tür geschlüpft ist, durch die Tür in Richtung meines Platzes huschen, als die Tür haargenau vor meiner Nase mit einem dumpfen Knall zugeschlagen wird. Ärgerlich greife ich nach der Klinke, um die Tür zu öffnen, doch leider ist diese Tür eine besondere Sicherheitstür, die man nur von innen öffnen kann, somit bin ich ausgesperrt. Na toll, mir bleibt nun nichts anderes übrig, als zu klopfen. Jetzt bin ich sowieso zu spät und meine gute Laune wie weggepustet. Vorsichtig klopfe ich mit hochrotem Kopf und warte darauf, dass mir geöffnet wird. Ich bin sonst nie zu spät. Herr Grünwies öffnet mir verärgert die Tür und die Schimpftirade beginnt: „Nicole Gwendolyn, warum um Himmels Willen kommst du zu spät?!"
„Aber ich bin doch nicht zu spät, höchstens ein paar Sekunden, außerdem-"
Er deutet tadelnd auf die Wanduhr. 9:30 prangt mir höhnisch entgegen. Ich vergleiche die Uhrzeit mit der auf meiner eigenen Uhr. 8:30. Mit hochrotem Kopf fällt mir wieder ein, dass mir meine Uhr gestern Nachmittag ins Wasser gefallen ist und nun kaputt ist, was ich heute Morgen vergessen habe. Wäre ich nicht in die Buchhandlung gegangen, hätte ich es vermutlich etwas pünktlicher geschafft!
„Auf deinen Platz, Nicole. Bitte melde dich für heute Mittag zu einer Stunde Nachsitzen."
Unter den spöttischen Blicken der Klasse sinke ich auf meinen Stuhl und schreibe von meiner Freundin Mandy den Stoff ab. Nachsitzen hat mir gerade noch gefehlt! Wie soll ich das meiner Mutter beibringen? Plötzlich stupst mich Moritz an, der hinter mir sitzt und gibt mir einen Zettel: „Von Jasmin." Verdutzt falte ich ihn aus einander.
„Na du hohle Kuh? Wieder einmal zu spät? Wieder im BUCHLADEN abgehangen?", steht darauf. Die Buchstaben geschwungen und rund, eine klar wiedererkennbare Handschrift. Genervt falte ich den Zettel zusammen, nicht ohne ein „Fick dich" Darauf zu schreiben, und werfe ihn ihr an den rothaarigen Kopf. Dummerweise hat Herr Grünwies den Zettel gesehen und kommt zu Jasmin hinüber. „Von wem ist der Zettel?" Grinsend wie ein Unschuldslamm deutet Jasmin auf mich.
„Ich habe ihn noch nicht gelesen", lügt sie, als käme er von mir.
Herr Grünwies donnert: „Dann lies vor!"
Das lässt sich diese Ziege nicht zweimal sagen und liest den ganzen Zettel vor, nicht, ohne zu betonen, dass der gesamte Text von mir kommt. „Nicole! Was soll das?", zischt Herr Grünwies gefährlich leise. „Das ist so gemein, Nicole...", Jasmin versucht eine künstliche Träne aus dem Auge zu pressen, was ihr jedoch nicht gelingt und bebt ein wenig mit den Lippen. Das ist doch nicht normal! „Aber das war ich-", setze ich an.
„Sei still und konzentriere dich. Deine Eltern rufe ich heute Nachmittag an." Beschämt mache ich mich kleiner. Es bringt eh nichts, hier irgendetwas zu sagen. Wie soll ich das mit dem Nachsitzen meinen Eltern beibringen? Heute Mittag hat Henri ein Fußballspiel, da wollte ich doch eigentlich die Gelegenheit nutzen, endlich ein Gespräch mit ihm zu beginnen, stattdessen muss ich hier sitzen und nachsitzen?! Stinksauer gebe ich auf und konzentriere mich auf den Stoff. Jasmin wirft einen alten Radiergummi in meine Richtung, natürlich sieht das Herr Grünwies nicht, der war schon wieder dabei, neue Formeln an die Tafel zu schreiben.
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Liebe sieht aus wie eine Wolke (Band 1) ✔️
Teen FictionDie fast 16-Jährige Schwedin Nicole lebt ihr Leben eher in Büchern als im Real life. Ansonsten hätte sie ihren Schwarm Henri längst angesprochen. Doch der hat mittlerweile eine Freundin... Als der 16 Jährige Fotografienerd Fynn das Haus neben Nicol...