28 - Jay

1.6K 73 6
                                    

„Und langsam fang' ich fast schon an, die Zeit hier ohne dich zu hassen."
(Wise Guys – Ich will zu dir)

„Jay?" Zögernd öffnete mein Bruder die Tür zu meinem Zimmer einen Spalt breit und lugte vorsichtig zu mir hinüber.
„Hm?", brummte ich verschlafen. Nachdem ich bei Sean im Zimmer gewesen war, hatte ich mich auf mein Bett geschmissen und musste wohl irgendwann eingeschlafen sein.
„Darf ich rein kommen?"
Ich nickte nur, immer noch ein wenig verpennt, während er schließlich auf mein Bett kletterte.
„Was gibt's, Kleiner?"
„Mom will wissen, ob du nichts essen magst." Er begann auf meinem Bett herumzuhüpfen und warf mir auf meinen strafenden Gesichtsausdruck nur ein unschuldiges Grinsen zu. Ich packte ihn am Fuß, um ihn an seiner Tätigkeit zu hindern, doch er kicherte nur, befreite sich aus meinem Griff und machte dort weiter, wo er aufgehört hatte. Seufzend erhob ich mich und lenkte meinen Blick auf mein Handy. Es war fast achtzehn Uhr und ich hatte heute noch nichts zu Mittag gegessen. Langsam machte sich mein leerer Magen bemerkbar.
„Kommst du mit runter, Big Boss?" Ich streckte ihm meine Hand entgegen, die er jedoch ignorierte und an mir vorbei die Treppen hinab sauste.
„Wie geht's dir?", wollte Celine von mir wissen, auf die ich in der Küche traf.
Ich zuckte mit den Schultern. „Es geht. Wann gibt's denn Abendessen? Ich bin am Verhungern."
„Wie wär's mit jetzt?", grinste sie und drückte mir vier Teller in die Hand.
„Gute Idee." Ich lachte leicht, während ich den Tisch deckte. Es fiel mir schwer, so zu tun, als wäre alles in Ordnung, doch wenn ich meine schlechte Laune weiterhin an allen anderen auslassen würde, wäre das auch nicht hilfreich. Und so schmerzhaft es war, mir einzugestehen, dass ich alles versaut hatte, das Leben ging schließlich weiter. Auch wenn ich nicht den Gedanken fasste, jetzt schon aufzugeben. Ich würde ihr die Zeit lassen, die sie brauchte und dann erneut versuchen, sie davon zu überzeugen, wie wichtig sie mir war. Wenn ich nicht aufgab, musste sie mir doch irgendwann glauben, oder?
„Jay?" Meine Stiefmutter fuchtelte mit einer Hand vor meinem Gesicht herum. Blinzelnd lenkte ich meinen Blick auf ihr Gesicht.
„Was hast du gesagt?"
„Holst du bitte deinen Vater?", meinte sie nur lachend und gab mir einen leichten Stoß in die richtige Richtung.
„Dad, kommst du zum Essen?" Vorsichtig spähte ich in sein Arbeitszimmer hinein. „Du arbeitest doch jetzt nicht schon an Heiligabend, oder?"
„Pst!" Beschwörend legte er einen Zeigefinger auf seine Lippen. „Mach die Tür zu!"
Verwirrt tat ich, was er von mir verlangte. „Was heckst du denn jetzt schon wieder aus?"
„Es ist Weihnachten, Jay, da hat jeder so seine kleinen Geheimnisse.", grinste er. „Na ja ... außer dir vielleicht. Du hast das größte Geheimnis ja wohl gerade erst unfreiwillig gelüftet."
Grimmig sah ich ihn an. „Wirklich witzig, Dad. Danke, dass du mich so aufbaust.", schnaubte ich leise. „Denkst du nicht, dass es schon schwer genug für mich ist?"
Statt Mitgefühl zu zeigen, wirkte er fast zufrieden. „Es geschieht dir ganz recht, Jay. Ich habe dir tausendmal gesagt, dass du so nicht mit anderen Menschen umgehen kannst. Habe ich dich zu solch einem Kerl erzogen, der einfach so seinen Schabernack mit Mädchen treibt? Ich habe dich gewarnt. Es war klar, dass du irgendwann selbst in deine eigene Falle tappst."
„Schön." Ich verdrehte die Augen. „Können wir das später ausdiskutieren?"
„Das werden wir, Freundchen." Er lachte und schlug mir freundschaftlich gegen die Schulter, um mir zu zeigen, dass er das Gesagte nicht so hart meinte, wie es geklungen hatte. Toller Trost.

„Ich muss dir was beichten, Jay." Mein Dad sah alles andere als schuldbewusst aus, während er sich eine Gabel Salat in den Mund schob und amüsiert meinen misstrauischen Blick betrachtete.
„Und was?" Meine Situation konnte doch eigentlich nicht schlimmer werden. Das dachte ich jedenfalls.
„Tante Linda kommt über die Feiertage zu Besuch."
Ich verschluckte mich an einem Reiskorn, das aufgrund des Schreckens nicht den richtigen Weg in die Speiseröhre gefunden hatte, und hustete. „Womit habe ich das nur verdient?", krächzte ich und griff nach dem Wasserglas, um einen kräftigen Schluck zu trinken. Alkohol wäre jetzt definitiv die bessere Wahl gewesen, aber was soll's.
„Ich würde sagen, es gibt genug Gründe, weswegen du das verdient hast."
Seit wann war mein Vater eigentlich so ein Sadist?
„George, hör auf, dich ständig über ihn lustig zu machen. Er hat es schwer genug.", verteidigte mich Celine sofort. Ich würde sagen, ich hatte wirklich die beste Stiefmutter auf der Welt.
„Und wie lange bleibt sie?" Ich ignorierte die Aussage meines Dads einfach, obwohl sie mich eigentlich nur noch mehr fertigmachte. Verdammt, ich wusste doch, dass ich Mist gebaut hatte! Musste er mir das denn ständig unter die Nase reiben?
„Vier oder fünf Tage. Also kein Grund zur Panik."
„Kein Grund zur Panik?! Wie soll ich denn fünf Mal vierundzwanzig Stunden mit dieser Frau aushalten?"
„Also dass es vierundzwanzig Stunden sind, wage ich zu bezweifeln.", meinte er grinsend. „Du wirst ihr wohl kaum nachts begegnen. Außerdem: Sprich nicht so von deiner Großtante." Er blieb ernst, obwohl ich doch an seinen zuckenden Mundwinkeln erkennen konnte, dass es ihn große Mühe kostete, nicht laut zu lachen. „Ich erwarte von dir, dass du sie mit Respekt behandelst, verstanden?"
„Ich denke, ich ziehe zu Ben.", nuschelte ich. Warum kam eigentlich gerade alles zusammen? Dabei hatte ich mir die Ferien so schön ausgemalt.
„Das wirst du nicht. Du wirst schön hier bleiben und nett und höflich zu Tante Linda sein."
Ich stöhnte einmal genervt. „Du kannst mich ja doch nicht dazu zwingen, den ganzen Tag im Haus zu bleiben."
„Du weißt nicht, was ich alles kann." Er lachte, während ich ihm nur böse Blicke zuwarf.
„Hast du heute einen Clown gefrühstückt, oder warum bist du so gut drauf?" Ich schätze, mein Vorsatz, meine schlechte Laune zu verbergen, hatte sich schon wieder in Luft aufgelöst. Aber bei einem Vater, der einem das Leben anscheinend zur Hölle machen wollte, fiel es auch mehr als schwer, solche Vorsätze in die Tat umzusetzen. Hätte er nicht die ganze Zeit über gestichelt, wäre es mir wohl wesentlich leichter gefallen. Aber ich musste zugeben: Ich hatte es verdient, dass er mich aufzog und dass meine Ferien nicht so liefen, wie ich es mir gewünscht hatte. Aber das besserte meine Laune dann auch nicht.
„Ich bin nur besser gelaunt als du, aber das ist ja zurzeit sowieso keine große Kunst."

Bittersweet LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt