22 - Jay

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„Mit besten Grüßen direkt von Wolke Sieben!"
(Wise Guys – Mit besten Grüßen)

Unschlüssig hielt ich den weißen Briefumschlag in meinen Händen. Ich hatte meinen Schreibtisch aufgeräumt und in einer Schublade den Brief meiner Mutter gefunden, den Dad mir an Thanksgiving überreicht hatte. Damals hatte ich ihn ungelesen in der hintersten Ecke abgelegt, um ihn verdrängen zu können, was mir auch voll und ganz gelungen war. Schweigend betrachtete ich das Papier und versuchte die verknickte Ecke des Umschlages wieder glatt zu streichen. Das Lächeln, das seit gestern auf dem Jahrmarkt eigentlich wie festgebrannt gewesen war, war nun vollständig verschwunden. Ich wusste nicht, ob ich diesen Brief wirklich lesen wollte, doch wie von selbst schlitzte ich schließlich die obere Kante auf und zog einen sorgsam gefalteten Zettel heraus. Ein Foto fiel auf den Boden, mit der Seite des Bildes nach unten, als ich das Papier aufklappte. Ich kümmerte mich nicht darum. Viel wichtiger waren die geschriebenen Worte, die ich langsam in mich aufsog.

Mein lieber Jayden!

Schon nach der Anrede packte mich die blanke Wut. Wie konnte sie mich ihr Eigen nennen, was sie mit dem Wörtchen mein eindeutig tat, obwohl sie uns damals alleine gelassen hatte? Sie hatte nur an sich gedacht und nicht einmal auf die Gefühle von Dad oder mir Rücksicht genommen. Ich war sechs Jahre alt gewesen! Wie konnte eine Mutter ihrem sechsjährigen Sohn so etwas antun, wenn sie ihn wirklich liebte? Hatte sie denn nie daran gedacht, was das für mich bedeutet hatte?
Von den Erinnerungen überrannt schloss ich meine Augen. Meine Hände klammerten sich an das dünne Papier und zerknitterten es. Ich wollte nicht weiter lesen, doch wie von einem inneren Zwang getrieben nahm ich auch die nächsten Wörter auf.

Ich weiß, dass du wütend auf mich bist, schließlich hast du mich das mit deinen Reaktionen auf meine Anrufe und auf meine Briefe deutlich spüren lassen. Glaub mir, ich kann dich verstehen. Ich frage mich ja selbst ständig, wie ich dir so habe wehtun können. Dass du am Telefon nicht mit mir sprechen willst und meine Briefe nicht beantwortest, ist jetzt wohl die Strafe, die ich für mein Verhalten erhalte. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, wie ich dir all das sagen soll, was ich dir so gerne sagen würde. Was ich sagen kann, ist, dass es mir leidtut. Ich bereue meinen Fehler, den ich begangen habe, zutiefst. Ich bereue es nicht, weil mein Leben hier nicht meinen Vorstellungen entspricht, sondern ich bereue es, weil ich weiß, wie sehr ich dich enttäuscht habe, wie sehr ich dir wehgetan habe. Und ich bereue es, weil ich dich nicht habe aufwachsen sehen. Ich habe nicht gesehen, wie du in die Schule gekommen bist, wie du dein erstes Basketballspiel hattest. Ich war nicht bei dir, als du deine erste Freundin hattest und ich werde wohl auch nicht da sein, wenn du deinen High School Abschluss in die Tasche steckst.

Erneut machte sich Zorn in mir breit. Es stimmte, sie hatte mich nicht aufwachsen sehen und war nicht bei mir gewesen. Aber das war ganz allein ihre Schuld. Niemand hatte sie dazu gezwungen, uns zu verlassen! Sie hatte nicht das Recht, jetzt bei mir Mitleid erregen zu wollen. Was sollte das also?

Du wirst jetzt wahrscheinlich denken, dass das allein meine Schuld ist. Ich muss dir zustimmen. Es ist meine Schuld und ich alleine bin dafür verantwortlich, dass ich nun diese Schuldgefühle mit mir herumtragen muss. Ich kann niemanden zum Sündenbock machen und das hatte ich auch nie vor. Ich will mein Verhalten auch nicht rechtfertigen. Das Einzige, was ich will, ist es zu erreichen, dass du mir vergibst. Ich will dich irgendwann in meine Arme schließen können und wissen, dass du mir mein Verhalten verziehen hast. Vor zwölf Jahren habe ich dich das letzte Mal gesehen. Damals warst du ein kleiner Junge, mit einer Zahnlücke im Mund, die du stolz jedem präsentiert hast. Jetzt bist du achtzehn, erwachsen. Und ich kann nur von dem Foto, das dein Dad mir geschickt hat, weil ich ihn darum gebeten habe, erahnen, wie du jetzt aussiehst. Aber ich habe keine Ahnung, wie du dich verhältst, wie du sprichst, wie du mit anderen Menschen umgehst. Auch wenn du mir jetzt vielleicht nicht glaubst, aber ich habe dich weder vergessen noch habe ich versucht, dich aus meinem Leben zu streichen. Ich wollte nie ohne dich sein, aber ich dachte, es wäre das Beste für dich, wenn du bei deinem Vater bleibst. Ich wollte nicht so egoistisch sein und dich aus deiner vertrauten Umgebung reißen. Bis heute weiß ich nicht, ob ich damals die richtige Entscheidung getroffen habe. Ich hätte euch vermutlich nicht verlassen sollen, aber ich kann es nicht rückgängig machen, auch wenn ich es mir noch so sehr wünsche. Ich hätte dir gerne alles erspart, was du erlebt hast. Es tut mir leid.
Ich liebe dich, Jayden. Ich liebe dich, auch wenn du oft daran zweifelst. Aber du musst mir glauben, ich habe nie aufgehört, an dich zu denken. Jeden Tag war ich mit meinen Gedanken bei dir. Ich wünsche mir, dass wir einen Neuanfang wagen können. Und wie ich es schon so oft in meinen Briefen erwähnt habe, würde es mir alles bedeuten, wenn ich dich endlich wieder sehen könnte. Es wäre wundervoll, wenn du uns in den Sommerferien besuchen kommen würdest. Du kannst auch gerne jemanden mitbringen. Bitte wehre dich nicht sofort gegen diesen Vorschlag, sondern denke in Ruhe darüber nach. Wenn du dann entscheidest, dass du mich nicht sehen willst, dann kann ich das nur akzeptieren und hoffen, dass du deine Meinung irgendwann ändern wirst. Aber bitte, bitte denke darüber nach.

Bittersweet LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt