07 - Cat

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Der Gedanke an dich reicht, um Berge zu versetzen, mich wieder zu verletzen."
(Wise Guys – Wir hatten den Moment)


Was hatte ich denn erwartet? Hatte ich tatsächlich gehofft, dass die Dinge, die über Jay in der Schule erzählt wurden, nicht der Wahrheit entsprachen? Dass der beliebteste Kerl der Schule kein Mädchenschwarm war, der sich nicht im Geringsten um die Gefühle anderer Menschen kümmerte? Hatte ich geglaubt, dass er vielleicht früher so gewesen war, sich aber nun anders verhielt? Hatte ich wirklich an das Gute in ihm geglaubt und alles andere verdrängt?
Und was hatte es zu bedeuten, dass ich nicht an sein Verhalten glauben wollte, dass ich mich so gegen die Tatsache, dass er nicht anders war als Drew, wehrte?
Frustriert stützte ich den Kopf auf meine Hände. Zurzeit war ich wirklich nicht in der Lage dem Englischunterricht zu folgen. Meine nächste Stunde wäre Mathe. Ich hatte keine Ahnung, wie ich Jay gegenübertreten sollte. Hatte er die Worte mir gegenüber wirklich ernst gemeint?
Mein Kopf brummte schon am frühen Morgen von den ganzen Fragen, die ich nicht beantworten konnte. Fragen, die mich Tag und Nacht beschäftigten.
„Miss Summers, möchten Sie das eben genannte Zitat noch einmal wiederholen?" Der strenge Blick der älteren Englischlehrerin traf auf mich. Ich mochte sie nicht. Und sie mich anscheinend auch nicht.
„Entschuldigung, Mrs. Gardener, ich habe gerade nicht aufgepasst."
„Das habe ich gemerkt!", giftete sie. „Besser Sie achten in Zukunft auf meinen Unterricht!"
Sollte das jetzt etwa eine Drohung sein? Bei der Frau wusste man ja nie ...
„Also, wer kann das Zitat von Robert Louis Stevenson wiederholen, damit Miss Summers auch im Bilde ist, was wir gerade durchnehmen?"
Wären meine Wangen nicht eben schon rot angelaufen, hätten sie spätestens jetzt die Farbe einer Tomate angenommen. Ich hasste es, von Lehrern bloß gestellt zu werden!
„Mister Hastings.", rief sie nun also Ben auf, der ebenfalls aus seinen Träumereien zu erwachen schien. Doch im Gegensatz zu mir hatte er wohl zugehört, da er keine Probleme hatte, das Zitat aus dem Gedächtnis zu wiederholen.
„You cannot run away from a weakness; you must sometimes fight it out or perish. And if that be so, why not now, and where you stand?"
(Deutsch: „Du kannst nicht vor einer Schwäche davon laufen; manchmal musst du dich durchbeißen oder zugrunde gehen. Und wenn das so ist, warum nicht jetzt und dort, wo du stehst?")
Konnte es sein, dass Mrs. Gardener und Robert Louis Stevenson mich ärgern wollten? Man sollte sich also der Schwäche stellen und nicht davon laufen, auch wenn man daran zugrunde gehen würde? Vielleicht bildete ich mir das in diesem Moment auch nur ein, aber meiner Meinung nach passte dieses Zitat in gewisser Weise auf meinen jetzigen Zustand. Ich hatte mir nämlich fest vorgenommen, Jay aus dem Weg zu gehen, vor den Problemen davon zu laufen. Denn ich wusste, dass ich – würde ich dies nicht tun – daran zugrunde gehen würde. Ich würde mich weder jetzt, noch sonst irgendwann diesem Problem stellen. Das war zumindest meine Absicht gewesen. Und dann kam ein Robert Louis Stevenson und zerstörte meinen Vorsatz mit einer einzigen Aussage. Wäre es vielleicht doch besser, mit Jay zu sprechen, die Missverständnisse aus dem Weg zu räumen, sich den Problemen zu stellen und vielleicht ganz von vorne anzufangen?

Meine Unentschlossenheit verflog nicht. Als ich mich in Mathe auf meinen Stuhl setzte, ließ ich meinen Blick aufgeregt in der Gegend umherwandern. Er war nicht da. Würde er noch kommen? Wie würde er sich mir gegenüber verhalten?
Erst mit unserem Lehrer betrat auch Jay das Klassenzimmer und ließ sich ohne ein Wort neben mich fallen. Auch er schien zu überlegen, wie er sich nun verhalten sollte, denn heute bekam ich kein freundliches Lächeln, kein freches Grinsen und auch keine Begrüßung geschenkt. Noch nicht einmal sein Blick ruhte auf mir.
Unruhig rutschte ich auf dem Stuhl hin und her.
„Warum bist du denn so nervös, Kleine?", vernahm ich auf einmal hinter mir ein Flüstern. Ich drehte mich um und blickte einem Kerl ins Gesicht, den ich noch nie wahrgenommen hatte. Seine blonden Haare waren so kurz, dass man glaubte, er käme vom Militär und seine grauen Augen funkelten seltsam.
„Spürst du meine Anwesenheit etwa so deutlich, dass du nicht mehr still sitzen kannst? Du kannst gerne nach der Schule mal bei mir vorbeischauen." Er grinste siegessicher, als ich ihn nur sprachlos anstarrte. Und ich hatte gedacht, Jay wäre schlimm. Im Gegensatz zu diesem Typen war er ja der reinste Engel. Allein der Gesichtsausdruck des Blonden ließ einen erschaudern und erkennen, was für einen Charakter er besaß: Gar keinen.
„Lass sie in Ruhe, Parker.", mischte sich eine weitere Stimme ein. Fast geschockt wandte ich meinen Kopf zur Seite und blickte direkt in die dunkelbraunen Augen von Jay. Nur eine Sekunde lang lag sein Blick auf mir, bevor er sich nach hinten drehte.
„Misch' dich da nicht ein, Kingsley. Ich mache, was ich will."
„Ich habe gesagt, du sollst sie in Ruhe lassen, verstanden?!" Ich hatte Jay noch nie so wütend erlebt. Selbst, als ich ihn auf seine Mom angesprochen hatte, war sein Verhalten nicht so aggressiv gewesen, wie es jetzt war. Seine Augen schienen Blitze zu versprühen und auch wenn der Blonde um einiges bulliger war als Jay, so machte er dennoch einen Rückzieher. Er schien zu wissen, dass er sich nicht mit dem Basketballkapitän anlegen sollte.
Nicht ohne Jay noch ein letztes Mal mit einem giftigen Blick zu bestrafen, wendete sich dieser Typ, dessen Nachname anscheinend Parker war, von uns ab.
„Ich ... ähm ... danke.", stotterte ich leise vor mich hin und wurde rot.
Doch Jay sah mich nicht mehr an und sprach auch nicht mit mir, was mich traurig werden ließ. Ich hatte mich die letzte Woche so an seine Sprüche und an sein Lachen gewöhnt, dass es mir fast Schmerzen zufügte, nun nicht von ihm beachtet zu werden. Doch es war besser so – das versuchte ich mir zumindest einzureden.
Obwohl mich immer noch tausende Fragen quälten, versuchte ich mich auf den Matheunterricht zu konzentrieren und stellte frustriert fest, dass ich wirklich von nichts eine Ahnung hatte. Ich müsste mir wohl tatsächlich einen Nachhilfelehrer suchen.
„Mr. Sullivan?", sprach ich den Mathelehrer also nach dem Unterricht an. „In meiner Schule waren wir nicht ganz so weit und jetzt komme ich im Unterricht gar nicht mehr nach. Wissen Sie vielleicht jemanden, der mir Nachhilfe geben könnte?"
„Aber natürlich, Cathleen. Jayden ist sehr gut in Mathe und ich traue ihm auch zu, dass er dir alles gut erklären kann. Außerdem scheint ihr euch ja schon angefreundet zu haben. Jayden kommst du mal bitte her?"
Erschrocken riss ich meine Augen auf. Mein Schicksal schien mich tatsächlich zu hassen.
„Cathleen benötigt jemanden, der ihr Nachhilfe in Mathe geben kann. Ich habe an dich gedacht. Ist das okay?"
„Sicher, Mr. Sullivan.", gab der Braunhaarige gelangweilt von sich. Nach außen hin schien es ihm egal zu sein, doch in seinen Augen spiegelte sich Unsicherheit wider. Ein Ausdruck, den ich bei ihm bisher noch nicht gesehen hatte.

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