9 - Moralisch absolut verwerflich?

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Ich will mir gar nicht ausmalen, was mir blüht, wenn sie diesen Brief gefunden und gelesen hat. Ich glaube, erst dann werde ich erfahren, was wirkliche Qual ist. Ich muss morgen früh unbedingt im Klassenraum nachgucken, ob ich ihn irgendwo finde. Wenn dies nicht der Fall ist, dann hoffe ich, dass er im Mülleimer gelandet ist und sich nun in der Tonne befindet...

Durch die Angst, dass Frau Hartmann den Brief gelesen haben könnte, konnte ich die Nacht überhaupt nicht schlafen. Es war unmöglich für mich, meine Gedanken und Befürchtungen abzustellen. Ich habe mir wirklich alles ausgemalt, was passieren könnte, wenn sie diesen Brief gefunden und tatsächlich gelesen hat: sie könnte sauer sein, sie könnte geschockt sein oder auch geschmeichelt reagieren. Es könnte alles passieren, doch es könnte natürlich auch sein, dass sie den Brief gar nicht gefunden hat. Blöderweise habe ich auf den Brief schon ihren Namen geschrieben, weil ich mir zwischenzeitlich immer mal wieder sicher war, dass ich den Brief abgeben werde. Hätte ich doch nur auf meine Zweifel, die ich immer mal wieder hatte, gehört. Dann hätte ich wenigstens ihren Namen nicht darauf hinterlassen. Dann könnte ich mir jetzt wenigstens etwas sicherer sein, dass dieser Brief einfach nur im Müll gelandet ist oder dass Frau Hartmann ihn wenigstens nicht gelesen hat. Es ist jetzt kurz nach 5 Uhr in der Früh und ich bin total erschöpft und müde. Doch mein Herz hört nicht auf zu rasen - ich habe einfach total Angst. Aber wenn ich genauer auf meine Gefühle achte.. dann bin ich irgendwie auch total aufgeregt und ein bisschen erleichtert. Denn wenn sie den Brief gefunden und gelesen hat, dann bin ich meine Last erstmal los. Vielleicht geht es mir durch das Geständnis tatsächlich besser. Denn dann muss ich nicht immer so tun, als wäre alles okay und vor allem muss ich mir keine Gedanken mehr machen, was meine Lehrerin denkt, wenn ich sie vielleicht etwas länger an starre. Mir ist jedoch bewusst, dass ich vorsichtig sein muss. Wie ich schon in meinem Brief geschrieben habe, ist es verboten und es wäre auch sehr blöd, wenn meine Klassenkameraden das mitbekommen. Gott sei Dank waren meine Mitschüler schon aus dem Raum draußen und ich war die letzte neben Frau Hartmann, die den Raum verließ. Sonst wäre es natürlich sehr wahrscheinlich gewesen, dass ein Klassenkamerad oder eine Klassenkameradin den Brief gesehen und gelesen hätte. Ich habe zwar noch eine knappe Stunde, bis ich aufstehen muss, doch das führt doch sowieso zu nichts. Ich wälze mich hin und her und schließe meine Augen, doch in meinem Kopf passiert gerade so viel und das schon seit mehreren Stunden. Vielleicht sollte ich einfach aufstehen mich ein bisschen frisch machen, vielleicht sogar kalt duschen und versuchen, ein bisschen runterzukommen. Ich sollte mir vielleicht etwas suchen, das mich ablenken könnte. Es ist ja auch nicht mehr lange, bis ich Frau Hartmann sehe: ich habe sie in der ersten Stunde. Das heißt, es sind noch nicht einmal drei Stunden, bis es so weit ist - bis ich sehen werde, ob sie den Brief gefunden und gelesen hat.

...

Ich reibe mir ermüdet meine Augen und schau in den Spiegel. Ich entdecke ein sehr erschöpftes Mädchen, das wirklich müde aussieht. Ich habe einfach keine Ahnung mehr,  was ich tun soll. Ich kann nicht mehr abwarten, ich muss einfach wissen, was mit meinem Brief geschehen ist. Wenn ich ein bisschen früher zur Schule gehe - .. vielleicht treffe ich Frau Hartmann dann bevor sie die Schule betritt. Das wäre vielleicht die Chance für mich, es schnellstmöglich herauszufinden. Das ist vielleicht keine gute Idee, denn ich würde sie (falls sie den Brief gelesen hat) erneut überfallen und sie vielleicht überfordern. Doch auch gleichzeitig quält es mich, denn ich wollte mir ja selbst aussuchen, ob und wann ich ihr den Brief gebe..

Nach langer Überlegung und einem kurzen Frühstück, einer schnellen Dusche, stehe ich nun hier vor dem Lehrerparkplatz meiner Schule. Erst in 30 Minuten beginnt die erste Stunde. Ich kann Frau Hartmanns Auto noch nirgends sehen. Ich werde zunehmend nervöser und überlege, was ich sagen könnte, wenn ich sie antreffen sollte.
"Guten Morgen Frau Hartmann, ich wollte Sie nur fragen, ob Sie gestern im Klassenraum vielleicht etwas gefunden haben, denn ich habe dort etwas Wichtiges verloren."
"Frau Hartmann! Guten Morgen, haben Sie gestern nach unserem Unterricht vielleicht einen Brief gesehen? Der gehört nämlich mir und ich brauche ihn unbedingt wieder?"
Das wäre natürlich eine sehr vorsichtige relativ interpretierbare Frage. Vielleicht sollte ich auch einfach mit einer Entschuldigung beginnen. Denn wenn sie den Brief gelesen hat und sie vielleicht sehr sauer ist, dann wäre womöglich eine Entschuldigung und eine Erklärung am angemessensten
"Frau Hartmann, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, ich wollte diesen Brief auch gar nicht im Klassenraum liegen lassen. Ich habe ihn verloren und Sie sollten den wenn überhaupt erst später bekommen."
"Es tut mir leid, wenn ich zu weit gegangen bin, doch auch mich belastet diese Sache unglaublich dolle."

That's not the love I had in mind. (TxS) (GxG)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt