12 - Die ganze Wahrheit?

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Am nächsten Morgen in der Schule fragt Liz natürlich, wo ich gestern hingegangen bin und wieso ich die letzten Schulstunden geschwänzt habe. "Weißt du eigentlich, wie es mir in letzter Zeit geht? Ich habe dir etwas anvertraut, das mir so verdammt nahe geht und deine Reaktion war voller Desinteresse - emotionsloser hättest du nicht sein können!", bringe ich vorwurfsvoll hervor. "Ich hatte mir ein wenig Verständnis und Trost erhofft und ich habe das Gegenteil erhalten! Den Rest des Tages hätte ich so nicht mehr ausgehalten." Mein wütender Blick wird wieder weicher - ich schaffe es nicht, länger wütend zu sein. Ich fühle mich viel zu erschöpft, um weiter mit Liz zu reden und entschließe mich dazu, schonmal in den Klassenraum zu gehen. Auch wenn es keine höfliche Aktion ist, lasse ich Liz somit einfach stehen. Vielleicht ist das aber auch nötig. Ich hatte die letzten Monate viel zu oft das Gefühl, nicht von ihr wahrgenommen zu werden. Immer war irgendein Tom, Bastian oder Marius wichtiger.

Natürlich kann ich gerade jetzt nicht gegen meine Nervosität ankommen - all diese Verliebtheitsgefühle tanzen in meinem Körper umher. Was mir aber auffällt, ist, dass es sich nicht nur schön und aufregend anfühlt. Es tut vor allem auch ein bisschen weh. In der Herzgegend vernehme ich immer wieder kurze, aber sehr intensive Stiche. Mein typisches Kribbeln im Bauch verbinde ich neuerdings mit Angst und Scham. Verliebt zu sein sollte sich so nicht anfühlen. Ich suchte lediglich nach Verständnis, nach einem offenem Ohr. Natürlich kann ich aber nicht leugnen, auch Hoffnung auf eine noch bessere Reaktion gehabt zu haben. Dass Frau Hartmann aber so reagiert, damit habe ich nicht gerechnet. Zumal sie den Brief ja gar nicht lesen sollte. Dass es ein Versehen war, glaubt sie mir bestimmt immer noch nicht. Es tut weh, zu wissen, dass sie mir gegenüber jetzt eine negative Meinung hat. Ich gefährdete mit dem Brief ihren Job und ihre Ehe. Das ist mir bewusst, doch war das nie meine Absicht..

"Sophie, wir sprechen uns nach der Stunde!", höre ich auf einmal Frau Hartmann sagen. Ich habe nicht mitbekommen, dass sie auch schon da ist. Tatsächlich sind kaum Klassenkameraden da - soviele fehlen regelmäßig. Es ist aber auch besser so, sonst wäre mir der vorwurfsvolle Ton von Frau Hartmann noch unangenehmer. Ich weiß schon, was sie von mir möchte. Vermutlich werde ich Ärger dafür bekommen, dass ich gestern nicht zu ihrem Unterricht erschienen bin und niemand wusste, wieso. Ich habe Angst davor, denn ihre kühle Art verletzt mich. Auf der anderen Seite freue ich mich ein kleines bisschen, wieder mit ihr zu sprechen. Und allein dieser Zwiespalt ist einfach nur verrückt...

...

"Sophie, du warst gestern plötzlich nicht mehr da. Sagst du mir, warum?", fragt mich Frau Hartmann, während sie die Tür schließt und dann mit ihren selbstbewussten Schritten auf mich zugeht. Ihre braunen Locken sehen heute besonders voluminös - und besonders schön aus. "Es ging mir nicht gut, deswegen musste ich nach Hause.", erwidere ich möglichst trocken, wobei man meine Unsicherheit wahrscheinlich heraushören kann. Frau Hartmann nimmt sich einen Stuhl und setzt sich mir gegenüber. Sie wirkt nachdenklicher. "Hast du den Brief wirklich nicht absichtlich hier gelassen?" Ein wenig überrumpelt von dem plötzlichen Themawechsel versuche ich mich zusammenzureißen und  ihr jetzt nicht mein ganzes Gefühlschaos zu offenbaren, sondern schlicht und einfach auf ihre Frage zu antworten. "Nein, es war niemals meine Absicht. Hätte ich gewollt, dass Sie den erhalten, hätte ich einen sicheren Weg dafür genutzt." Erneut scheint sie zu grübeln: "Ich muss mich bei dir für meine Reaktion entschuldigen. Auch wenn inhaltlich nichts verkehrt daran war, hätte ich einfühlsamer damit umgehen müssen. Als Lehrerin habe ich eigentlich den Auftrag, meine Schülerin in der Situation nicht noch mehr zu verunsichern...", erklärt sie mir. Ihr Gesichtsausdruck wird sanft und vorsichtig, ich kann keine Wut mehr darin erkennen. "Es ist wichtig, dass du dich jemandem anvertraust. Aber ich bin dafür nicht die richtige Ansprechpartnerin, ich habe eben soviel um die Ohren wegen meiner Scheidung - ich kann dich leider nicht auffangen. Zudem muss ich verhindern, dass Gerüchte entstehen." Wieder spüre ich Stiche in meiner Herzgegend. Dass sie sich scheiden lässt tut mir leid, aber das bedeutet, dass sie nicht wirklich vergeben ist. Aber das bringt mir leider nichts, da sie meine Lehrerin ist. Noch dazu ist sie viel älter als ich, was mich aber nicht stören würde. Jedoch macht es die Wahrscheinlichkeit niedriger, dass solche Gefühle beidseitig sind. "Ich hätte keinesfalls so reagieren dürfen. Ich glaube, ich bin selbst überfordert damit... Damals als ich noch zur Uni ging, hab ich ähnliches erlebt. Ich hatte auch Gefühle für eine meiner Dozentinnen entwickelt. Daher weiß ich, wie schlimm das für beide Seiten ausgehen kann. Eigentlich ist es ein Wunder, dass ich noch Lehrerin werden durfte." Ich sitze sprachlos da und weiß nicht, was ich sagen soll. Es ist viel zu viel auf einmal, als dass ich jetzt noch klar denken und eine halbwegs sinnvolle Antwort geben könnte. Ich starre auf ihre Hände, die diesmal nervös miteinander herumfuchteln. "Es tut mir leid, das zu hören. Ich wollte Ihnen nicht zu Nahe treten.", entschuldige ich mich mit einer unsicheren Tonlage. Ich schaue ihr vorsichtig in die Augen, die mich ein wenig anfunkeln. Ihre Mundwinkel gehen leicht nach oben, ihr warmes Lächeln bringt mich fast um den Verstand. "Du bist kein schlechter Mensch und du bist auch nicht komisch. Ich glaube, das ist das, was ich dir vermittelt habe bei unserem letzten Gespräch. Das wollte ich so nicht." In meinem Kopf tauchen immer mehr Fragezeichen auf. "Ich hoffe, du sprichst mit jemandem darüber, der dir irgendwie helfen kann. Denn ich kann es leider nicht." Meine feuchtwerdenden Augen zwingen mich dazu, schnell auf den Boden zu schauen. Das Gefühl der Verzweiflung macht sich in mir breit - meine Atmung wird schwerer, mein Brustkorb fühlt sich wie zugeschnürt an und in meinem Bauch entsteht ein Gefühl der Angst und Hilflosigkeit. "Ich muss jetzt gehen.", sage ich, ohne Frau Hartmann in die Augen zu schauen. Und dann ergreife ich die Flucht. Ein, zwei Tränen muss ich mir aus dem Gesicht wischen. Meine Atmung kann ich nur krampfhaft kontrollieren. Gedankenverloren frage ich mich, wer mir jetzt noch helfen kann. Auf Liz kann ich mich nicht verlassen. Ich entschließe mich dazu, zuhause mit meinen Eltern darüber zu reden und ihnen die ganze Wahrheit zu sagen.

"Da hat es dich aber ganz schön erwischt, Sophie..." Meine Mama umarmt mich, während mein Papa noch versucht, die richtigen Worte zu finden. "Du kommst ab jetzt bitte zu uns, wenn du dich alleine fühlst oder reden musst. Wir sind deine Eltern, wir lieben dich wie du bist, egal in wen du dich verliebst." Ich löse mich aus den Armen meiner Mama und traue mich nur vorsichtig, meinem Papa in die Augen zu sehen. Dann aber sagt er von selbst etwas: "Ach Schätzchen, du warst schon immer durch und durch ein Gefühlsmensch. Ich finde, deine Lehrerin macht es dir aber auch nicht leicht. Erst bettelt sie fast, dass du dich ihr anvertraust, dann stößt sie dich weg, was erstmal als Schutzreaktion nachvollziehbar ist. Anschließend entschuldigt sie sich für ihre schroffen Worte, was ich sehr gut finde. Die Informationen, dass sie sich gerade scheiden lässt und selbst mal in einer ähnlichen Situation war, wie du, finde ich etwas Fehl am Platz. Dadurch wird es nicht einfach werden, mit den Gefühlen zurechtzukommen und sie in Schach zu halten." So habe ich das noch gar nicht gesehen. "Du hast irgendwie recht. Es hat sich schon öfter so angefühlt, als würde sie mich mit einem Lasso an sich heranziehen und mich dann aber wieder mit einer Peitsche verscheuchen wollen. Es ist alles so verwirrend..", seufze ich. Meine Eltern trösten mich weiter und raten mir, vorsichtig und bedacht zu sein, da die Wahrscheinlichkeit für Konsequenzen nicht niedrig ist, sollte das jemand aus der Schule mitbekommen...

Ich gehe zwar mit einem erleichterten Gefühl ins Bett, jedoch stellt das Einschlafen eine große Hürde dar. Die Worte meiner Lehrerin gehen mir nicht aus dem Kopf. Vor allem das mit der Scheidung und dass sie selbst mal in eine Dozentin verliebt war. Wieso erzählt sie mir das? Nur, um ihre heftige Reaktion begründen zu können? Irgendwas in mir sagt, dass da noch etwas ist, das sie nicht ausgesprochen hat. Aber bestimmt sind das nur Wunschvorstellungen, die sich nie bewahrheiten werden...

That's not the love I had in mind. (TxS) (GxG)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt