Schlag 9

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„Ich werde es jetzt einfach mal sagen", beginnt Vincent und legt sein Besteck zur Seite. „Dein Vater und ich sind froh, dass du wieder hier bist. Ich weiß, dass es eine schwere Entscheidung war, hier her zu kommen, aber du sollst wissen, dass wir dich unterstützen."

Matthew merkt, wie das Gemüse in seinem Mund zäh und trocken wird. ungenießbar. Als er es heruntergeschluckt hat, meint er leise: „Danke, Vincent."

Vincent lächelt und nimmt sich wieder seine Gabel zur Hand. Er sitzt gegenüber von Matthew, am Tischende. Albertus sitzt seitlich von ihm und stochert auf seinem Steak herum, ohne auch nur einen Bissen zu essen. Stattdessen leert er schon das zweite Glas Rotwein. Er ist versunken in Gedanken und Matthew kann sich nur zu gut vorstellen, dass er gerade wieder einen schweren Fall hat, der ihn nachts nicht einmal im Bett in Ruhe lässt. Albertus redet viel, aber wenn er in Gedanken ist, bringt er nicht einmal einen Satz, der länger als drei Worte ist, aus dem Mund. Er ist redegewandt, aber wenn sein Kopf voller Manöver und Akten ist, streikt sein Mund.

Vincent bemüht sich immer wieder während des Abendessens die peinliche Stille zu füllen. Mal mit nettem Smalltalk und mal mit herzerwärmenden Kommentaren. Matthew schätzt das, aber er hat trotzdem noch das Gefühl, dass sein Kopf schwer wie ein Sack Mehl ist und ihm gleich von den Schultern fällt. Die Kopfschmerzen sind besser geworden, sein Fieber ist verschwunden und er hustet nicht mehr so viel. Alles dank William.

Und da ist er wieder. William. Der Gedanke, um den Matthew sich herum schleicht. Mal ärgerlich, mal peinlich berührt und mal in tiefster Trauer.

„Ich gehe ins Büro." Albertus schiebt den vollen Teller von sich weg, trinkt den Rest seines Weines und steht auf. Er sieht weder auf Vincent noch auf Matthew. Ein Stück weit scheint er enttäuscht. Auch wenn Matthew sicher ist, dass sein Vater genau das wollte: Sehen, dass Matthew doch zu unreif ist, um allein in der Welt zu existieren. Albertus hatte doch sicher gehofft, dass er wieder nach Hause kommt. Angekrochen kommt wie ein reumütiger Welpe, der eingesehen hat, dass seine Entscheidung auszuziehen, die falsche war. Und erst recht etwas anderes als Jura zu studieren, wie es Albertus vorgeschlagen hatte.

„Soll ich dafür sorgen, dass dir jemand etwas nach oben bringt? Einen kleinen Snack?", fragt Vincent hinterher.

Doch er erhält ein gemurmeltes Nein und dann hat Albertus schon den Raum verlassen.

„Er ist gestresst", versucht Vincent seinen Ehemann zu verteidigen.

„Wie immer", seufzt Matthew. Ihm ist übel. Das ist nicht die Grippe. Ihm ist übel, weil er hier ist. Weil er versagt hat. Weil er nicht einmal das kann. Weil er nicht studieren kann, keine Beziehung haben kann und erst recht nicht auf sich achten kann.

Matthew will einfach schlafen.

Doch als er dann später in seinem Zimmer in seinem warmen Bett liegt, will der Schlaf nicht kommen. Immer wieder dreht er sich hin und her und starrt an die Decke.

William.

Matthew hat den einzigen Menschen vergrault, der sich um ihn gesorgt hat.

Sein Handy zeigt eine weitere SMS von Miranda an: Ich kann dir Nachhilfe geben. Bitte gib nicht auf, du schaffst das!

Doch es geht nicht darum, ob Matthew es schafft. Denn er weiß, dass er es schaffen könnte. Ihm fehlt nur die Motivation, die Leidenschaft. Miranda studiert mit Leib und Seele. Er hingegen quält sich durch ein paar Veranstaltung und freut sich jedes Mal darauf, wenn er aus der Universität treten kann. Immer mit der leisen Hoffnung eines 8-Jährigen, dass das Gebäude abbrennt und er morgen nicht hin muss.

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