Schlag 10

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Der nächste Tag macht es Matthew nicht leichter aus seinem Bett zu kommen. Er quält sich dann schließlich hinaus, um zu frühstücken. Selbst das würde er nicht tun, wenn sein Magen nicht so grummeln würde.

Er bemüht sich, Vincent anzulächeln und ihm einen ehrlichen Guten Morgen zu wünschen.

Vincent bemerkt Matthews anhaltende schlechte Stimmung und auch die Augenringe, die sich unter seinen Augen abzeichnen. „Nicht gut geschlafen?"

„Nein, zu viel in meinem Kopf."

Vincent nickt verständnisvoll. Er kann sich daran erinnern wie Matthew als Kind war. Immer ein bisschen neben der Spur. Immer ein bisschen zu anders, um als normal zu gelten. Matthew war nie merkwürdig und nie so, dass es nicht geregelt werden konnte, aber er war anders. Und ist es noch.

„Wenn du möchtest, können wir in die Stadt fahren. Ich habe frei." Er lächelt seinen Stiefsohn aufmunternd an.

Um ehrlich zu sein, hat Matthew keine Lust. Weniger als keine Lust. Aber wenn er sich weigert und nicht mit geht, wird er hier versauern und wahrscheinlich lang nicht aus diesem emotionalem Loch kommen.

Er löffelt schweigend in seinem Müsli herum und nickt schließlich. „Aber nicht lange."

„Nur für eine Weile. Ich muss noch ein paar Besorgungen tätigen. Bald ist unser Jahrestag."

Matthew würde sich normalerweise über die Freude freuen, die Vincent ihm so offen und unverfälscht zeigt und ja, Vincent ist der einzige, bei dem Matthew so sein kann. Naja, neben... William.

Er schluckt den fetten Klos hinunter, der seine Kehle hinauf krabbelt, um ihm den Tag zu versauen. „Verstehe. Super, wann fahren wir?"

Vincent trinkt die letzten Schlucke seines Tees. „Nach dem Frühstück? Zieh dir etwas warmes an, es wird heute kalt."

Wann ist es das nicht? Sie leben quasi auf einem Berg.

Matthew macht sich nach dem Frühstück fertig und verlässt mit seinem Stiefvater das Haus. Die beiden fahren die lange Straße in das nächste Örtchen, das aussieht, als wäre es das Vorbild für viele Liebesromane und Gemälde. Es hat eine niedliche Innenstadt und alte Gebäude. Es ist so erfrischend winzig und eine willkommene Abwechslung von der großen Stadt, die Matthew sonst gewohnt ist. Sein Vater ist damals extra hierher mit Vincent gezogen und nicht in die große Stadt, in der Matthew nun studiert. Studiert hat. Uff.

Den ersten Halt machen sie in einer Bäckerei, wo Vincent einen Kuchen kauft und einen besonderen Zuckerguss, den es nur hier gibt. Er riecht fast so gut wie er schmeckt und Vincent benutzt ihn jedes Mal, wenn er backt. Danach landen sie in einem kleinen Klamottengeschäft, in dem Vincent eine Krawatte für seinen Ehemann kauft. Die Verkäuferin erkennt Matthew und als sie lächelnd fragt, was ihn hier ins kleine Örtchen bringt, muss er plötzlich auf die Toilette.

Verdrängung ist nicht die Antwort. Aber vorübergehend wird Matthes trotzdem davon Bedarf machen.

Nach ein paar weiteren kurzen Stopps in verschiednen kleinen Läden, die sich alle fragwürdigerweise hier Jahrzehnte lang halten können, trotz des Online-Shoppings, steigen die beiden Männer wieder in Vincents Ford und fahren wieder in die Richtung ihres Zuhauses.

Matthew sah schon immer dieses Haus als sein Zuhause, da er am meisten hier aufgewachsen ist, nach der Scheidung seiner Eltern. Er ist hier zur Schule gegangen, hatte hier seine erste Party, hat den ersten Jungen geküsst und dann für die heimliche Party den Anschiss seines Lebens bekommen. Vincent und Albertus sind seine Eltern.

Sie steigen aus dem Auto aus und Matthew wird als Packesel zweckentfremdet, als ihm Vincent alle Tüten in die Arme gibt.

Matthews Sicht ist versperrt und er lässt sich von Vincent leiten, der nur die Tüte mit dem Kuchen in den Händen hält. Er leitet Matthew die Treppenstufen zur Haustür hinauf und schließt die Tür auf.

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