Eigentlich hatte ich vor, etwas zu essen, bevor Roman anruft. Aber dann kriege ich doch nichts runter. Stattdessen tigere ich in meinem Zimmer auf und ab und bemühe mich, normal weiter zu atmen. Am liebsten würde ich das Telefonat wieder absagen.
Hannah ist bei Vanessa, weshalb sie mir auch nicht weiterhelfen kann.
Als das Handy in meiner Hand schließlich anfängt, zu vibrieren, starre ich mehrere Sekunden wie erstarrt darauf. Dann trete ich mir mental in den Hintern - meine Güte, es ist nur irgendein Typ! - und gehe dran.
"Hey", sage ich und frage mich, ob er wohl durch die Leitung hören kann, wie stark mein Herz klopft.
"Hi Tessa", sagt er und ich kann ihm anhören, dass er lächelt.
Das war's.
Ich bin verloren.
Der Typ hat eine Stimme wie Samt. Sie ist dunkel, warm und weich und legt sich um mich wie ein schützender Kokon.
"Alles okay bei dir?", will er wissen, als ich mehrere Sekunden nichts gesagt habe. Er hat einen winzigen Akzent. Vielleicht kommt er aus Österreich?
Ich räuspere mich. "Ich... klar. Es ist irgendwie seltsam, mit dir zu reden."
"Na, vielen Dank." Er lacht. Ich schlage mir lautlos mit der Hand gegen die Stirn.
"Ich meine nur, weil ich mich so daran gewöhnt hatte, mit dir zu schreiben."
Ich schließe die Augen und atme tief durch. Wieso war es so viel leichter, cool und entspannt zu sein, als ich die Worte tippen statt aussprechen musste?
"Ich weiß, was du meinst. Und ich kann immer noch nicht glauben, dass du mir wirklich erlaubt hast, dich anzurufen. Vielleicht träume ich ja nur."
Ich grinse. "Ich bin der Stoff, aus dem Träume gemacht sind." Geht doch.
Roman lacht. Das Geräusch verursacht mir eine Gänsehaut. Okay, es ist offiziell: Ich bin zur weichherzigen Romantikerin geworden.
"Dessen bin ich mir sicher", sagt er.
"Nur, dass du es weißt: Die Zeit läuft. Du hast noch sieben Minuten."
"Ich kann mit dem Druck nicht umgehen. Wo soll ich nur anfangen? Erzählst du mir etwas über dich? Was machst du, wenn du nicht arbeitest?"
Ich beschließe, dass es sicher ist, ihm ein paar Details von mir zu erzählen. Nicht gleich meine ganze Lebensgeschichte. Aber wir sind immer noch auf sicherem Smalltalk-Terrain.
"Ich bin Studentin."
"Oh cool, was studierst du denn?"
"Psychologie im siebten Semester."
"Gefällt es dir?"
"Und wie. Die ganzen Statistik-Vorlesungen waren zwar nicht so mein Ding, aber die habe ich schon längst hinter mir. Und seitdem ist es einfach nur spannend. Ich finde es so interessant, zu verstehen, was in anderen Menschen vorgeht und wieso sie Dinge tun, die sie tun. Jeder hat seine eigene Realität, das ist den meisten gar nicht so klar."
"Und was kannst du mir über mich sagen, Frau Doktor?"
Ich schweige einen Moment und denke nach.
"Ich denke, dass du schon mehrfach enttäuscht wurdest, weil Menschen dich wegen deines Aussehens mochten und nicht wegen deines Charakters."
Das macht ihn kurz sprachlos. "Wie kommst du denn darauf?", fragt er und an seiner rauen Stimme erkenne ich, dass ich damit ins Schwarze getroffen habe.
Ich lache. "Das war wirklich nicht so schwer. Warum sonst solltest du dich bei Blind Date angemeldet haben? Wenn du wirklich so gut aussiehst, wie du sagst - was ich natürlich erst glaube, wenn ich es gesehen habe -, dann hättest du dich genauso gut für Tinder entscheiden können, wo Menschen nur nach ihrem Äußeren beurteilt werden. Aber das wolltest du offensichtlich nicht."
"Hey, ich habe nie behauptet, dass ich total gut aussehe", widerspricht er lachend.
"Du siehst also nicht gut aus?"
"Naja... Das klingt nur extrem selbstverliebt, wenn du das so sagst. Das ist doch immer Geschmackssache. Aber... ich bin ganz zufrieden mit dir. Und du?"
"Bei mir ist es tagesabhängig. Manchmal fühle ich mich total wohl. An anderen Tagen nicht so. Wie siehst du denn aus?", frage ich, um das Gespräch von mir abzulenken.
"Wieso? Ist es dir wichtig, wie ich aussehe?"
"Ich bin einfach nur neugierig", erwidere ich.
"Na gut. Ich gebe dir die Eckdaten. Ich bin 1,88 Meter groß, habe dunkelbraune Haare, einen Drei-Tage-Bart und braune Augen. Fehlt noch was?"
Ich kann nicht anders, in meinem Kopf baut sich gleich ein Bild von ihm zusammen. "Du hast geschrieben, dass du tatöwiert bist. Überall?"
"Du meinst, auf dem ganzen Körper? Nein, nur stellenweise. Die sind auf dem rechten Arm, meiner Brust, dem Rücken und auf dem Oberschenkel."
"Das klingt nach ganz schön viel", sage ich beeindruckt. "Und was zeigen sie?"
"Die musst du dir wohl mal persönlich anschauen", sagt er. "Jetzt will ich wenigstens noch wissen, wie du aussiehst, bevor die Zeit rum ist."
"Ach, dir ist es also wichtig, wie ich aussehe?"
Er lacht. "Komm schon."
"Na gut. Ich habe dunkelblonde, lange Haare, dunkelblaue Augen und bin 1,70 Meter groß. Und ich habe keinen Drei-Tage-Bart."
Das bringt ihn zum Lachen. "Da bin ich ja beruhigt."
"Roman?", sage ich, nachdem ich einen Moment geschwiegen habe.
"Ja?"
"Du weißt schon, dass ich nur mit dir schreibe, weil ich eigentlich an deinem Hund interessiert bin, oder?"
Er lacht. "Du kannst Herrn Schulte gerne kennenlernen."
"Herrn Schulte?", frage ich irritiert. Ist das jetzt ein Synonym für seinen... kleinen Roman?
"Mein Hund. Das ist sein Name."
"Herr Schulte? Wieso das denn?"
Roman lacht glucksend. "Das ist eine Geschichte fürs nächste Mal. Unsere Zeit ist um, Tessa. Hab einen schönen Abend und schlaf gut!"
"Äh, du auch", stammele ich. Bevor ich noch etwas hinzufügen kann, hat er schon aufgelegt.
Mit einem Stoßseufzer lasse ich mich rückwärts auf mein Bett fallen.
Er hat es tatsächlich geschafft, mir die Kontrolle aus der Hand zu reißen. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass er länger als die vorgegebenen neun Minuten mit mir telefonieren will. Keine Ahnung, wieso. Ich habe diese Vorgabe ja selbst nur so halb ernst gemeint.
Und jetzt finde ich es fast schade, dass es schon vorbei ist.
Ich schicke Hannah eine Nachricht, um ihr mitzuteilen, dass ich unbedingt mit ihr reden muss. Sie hat mir die Suppe eingebrockt, vielleicht kann sie mir ja jetzt dabei helfen, wieder vernünftig zu werden.
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Blind Date (Roman Bürki FF)
FanfictionTessa ist zufrieden mit ihrem Leben. Sie braucht keinen Mann. Doch als ihre beste Freundin ihr vorschlägt, sich anonym bei der Dating-App "Blind Date" anzumelden, kommt es doch ganz anders. "MrTrueLove" scheint humorvoll, interessant und romantisch...