Kapitel 16

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Er hatte endlich was er wollte. Alecia hatte zugegeben, was er schon lange vermutet hatte. Ihm fehlte tatsächlich ein Teil seiner Erinnerungen und sie war gewillt ihm diese kostbaren Bilder der Vergangenheit für einen Tag zu gewähren. Lucas sollte zufrieden sein. Er hatte doch genau dies gewollt. Trotzdem stellte sich ein ganz und gar anderes Gefühl bei ihm ein. Er hatte Angst. Angst vor dem Vergessenen.

Es klopfte leise an seine Tür.

»Komme rein, Alecia«, ließ er verlauten, denn dieses leise, aber dennoch so fordernde Klopfen konnte er definitiv der Vampirin zuordnen, auch wenn sie scheinbar versuchte ihre Präsenz zu verbergen. Sie trat zögernd ein und immer noch glaubte Lucas so etwas wie Unsicherheit in ihrem Gang zu erkennen. Doch sie schien zu bemerken, dass es ihm nicht anders ging.

»Bist du bereit?«, fragte sie deshalb direkt.

Er wollte ihr mit fester Stimme ein »Ja, natürlich« entgegenbringen, doch aus seinem geöffneten Mund kam kein einziger Ton.

»Ich dachte, dass ist es, was du wolltest?«, fragte sie, da sie sein Schweigen als Nein interpretierte. - Womit sie nicht ganz unrecht hatte. Er wollte seine Erinnerungen, aber er fühlte sich nicht bereit dafür.

»Du brauchst keine Angst davor zu haben. Denn ich werde dir deine Erinnerungen wieder nehmen müssen, wenn die Zeit verstrichen ist. Es ist also egal, an was du dich erinnerst, du wirst es sowieso wieder vergessen müssen.«

»Aber warum das Ganze? Was bringt es mir dann mich überhaupt zu erinnern?«

»Deine innere Unruhe, das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, wird dann verschwinden. Vielleicht gibt es für dich noch etwas zu klären.«

Wieder war Lucas sprachlos. Woher wusste Alecia, von dieser Unruhe, die ihn seit Wochen plagte. Ein wissendes Grinsen legte sich auf ihr Gesicht.

»Warum hast du mir meine Erinnerungen überhaupt genommen?«, fragte er sie dann, bevor sie die Oberhand des Gesprächs gewann. Und tatsächlich brachte seine Frage sie etwas aus dem Konzept.

Sie senkte ihren Kopf etwas, sodass sie ihn nicht ansehen musste. Es verstrichen lange Sekunden bis sie ihm endlich antwortete.

»Das wird sich alles zeigen, sobald du deine Erinnerungen zurück hast«, sagte sie dann, wischte ihre Verunsicherung von ihren Zügen und fügte hinzu, »Es gibt ein altes leerstehendes Haus, ich möchte dass du dich morgen um Mitternacht dorthin begibst. Du wirst dort einer Person begegnen, die unwiderruflich mit deinen Erinnerungen verknüpft ist. Alles andere werde ich erledigen.«

Alecia wartete keine Antwort ab, drehte sich um und verschwand, so leise wie sie gekommen war.

***

Juliana hatte sich auf einen schönen Abend mit Jamie gefreut, doch wieder einmal funkte die Arbeit als Privatdetektiv dazwischen. Jamie würde sich verspäten. Das hieße dann wohl, ein Abend allein auf dem Sofa.

Das Fernsehprogramm war, wie so oft mehr als kläglich, was Juliana dazu veranlasste mit ihren Gedanken abzuschweifen. Sie hatte es heute tatsächlich geschafft nicht an den mysteriösen Lucas zu denken. Bis jetzt natürlich. Nach ihrer letzten Begegnung mit ihm, hatte sie geglaubt sie würde wieder etwas von ihm hören, doch es waren Tage vergangen, ohne irgendwelche Vorkommnisse. Und sie begrüßte diese Entwicklung mittlerweile. Dieser Lucas brachte sie nur durcheinander, schlich sich in ihre Träume und ließ sie dort erschreckende Bilder sehen. Sie wollte endlich wieder ruhig schlafen und dabei Jamie bei sich haben.

Als es an ihre Tür klopfte erschrak sie fürchterlich. Es war bereits dunkel draußen und sie war mal wieder allein. Jamie konnte es nicht sein, denn ihm hatte sie schon längst einen Schlüssel gegeben. Und jeder andere würde, ganz normal die Klingel betätigen. Das Bild des attraktiven Lucas drängte sich in den Vordergrund und ließ sie ihre Angst für einen Augenblick vergessen. Sie würde doch nicht wirklich zur Tür gehen. Es wäre totaler Leichtsinn sich dieser Gefahr auszusetzen. Es konnte sonst wer vor ihrer Tür stehen. Zu ihrer eigenen Verwunderung musste sie feststellen, dass sie sich zur Wohnungstür bewegte, während es bereits ein zweites Mal klopfte. Vor der Tür angekommen blieb sie stehen. Das Klopfen dauerte immer noch an.

»Lucas?«, entwich es ihren Lippen und plötzlich war das Klopfen verschwunden. Ihre Hände wanderten über das dunkle Holz der Tür, sie biss sich auf die Lippen, dann drehte sie den Schlüssel und drückte die Klinke langsam herunter. Mit einem Ruck riss sie die Tür auf.

Sie hätte mit allem gerechnet. Mit Lucas. Mit Jamie, der ihr vielleicht einen Streich spielte. Ja, sie hatte sogar die schaurige Überlegung gehabt, dass ein Einbrecher sich Zutritt verschaffen wollte. Doch damit hatte sie nicht gerechnet. Vor ihrer Wohnungstür stand eine Frau, die wirkte als wäre sie aus einer Märchenwelt entsprungen. Ihre Haut war weiß wie Porzellan und ihr Haar so hell, dass es nicht zu erkennen war, ob es noch blond oder bereits weiß war. Ihr durchdringender Blick ging Juliana durch Mark und Bein. Und für einen kurzen Moment glaubte sie, sie schon einmal gesehen zu haben. Mit einem Mal wurde ihr unwohl. Es hatte noch keiner etwas gesagt und Juliana wollte, dass das so bleibt. Sie versuchte die Tür wortlos zuzuschlagen, doch die Frau unterband ihr Vorhaben, in dem sie eine Hand, scheinbar mühelos, gegen die Tür presste.

»Ich finde du solltest mich hereinlassen, Juliana«, ließ sie verlauten und ohne, dass Juliana es auch nur irgendwie verhindern konnte, schlängelte sie sich an ihr vorbei und schritt auf das Wohnzimmer zu.

»Ich habe dir etwas zu sagen«, erklärte die unheimliche Frau dann. Als sie bemerkte, dass Juliana immer noch unschlüssig in der Türangel stand, fügte sie hinzu, »Es hat mit Lucas zu tun.«

Julianas Herz schlug ihr bis zum Hals und eine große Neugier überkam sie. Sie zögerte einen letzten Moment, dass ließ sie die Tür ins Schloss fallen und folgte der eleganten Frau.

»Mein Name ist Alecia«, ließ die Frau verlauten, als sie sich schließlich in Julianas Wohnzimmer gegenüber saßen. Der Name klang aus irgendeinem Grund vertraut in ihren Ohren. Doch er löste ein Gefühl des Unwohlseins in ihr aus.

»Kennen wir uns?«, kam es Juliana über die Lippen und sie wusste nicht genau, warum sie diese Frage gestellt hatte.

Das Grinsen auf dem Gesicht der Frau wurde breiter und sie sagte mit ruhiger Stimme, »Das kann man so sagen. Allerdings würde ich nicht behaupten, dass wir einander wohlgesonnen sind.«

»Das Gefühl habe ich auch«, sagte Juliana. Diese Alecia strahlte etwas Bedrohliches aus und sie merkte, dass sich eine große Anspannung in ihr ausbreitete. Ihr Körper war in Alarmbereitschaft, und wie vor einem Wettrennennen wartete sie in ihrer Startposition auf den Startschuss. Sollte diese Alecia irgendetwas vorhaben, dann war sie bereit für eine Flucht.

»Du würdest es nicht schaffen, mir zu entkommen«, ertönte es von der Frau und in Julianas Hals bildete sich ein Kloß. Woher wusste diese Person, was sie dachte?

Wieder schien sie genau zu wissen, was Juliana durch den Kopf ging, denn sie sagte, »Ich habe - über die Jahre - eine sehr gute Menschenkenntnis erlangt.« Ihre Worte klangen als kämen sie von einer sehr viel älteren Frau, dabei konnte Alecia - dem Aussehen nach - nicht sehr viel älter als Juliana sein. Oder? Das immer noch anhaltende Grinsen auf dem zarten Gesicht, machte ihr Angst.

»Ich bin sehr viel älter als du denkst«, sagte Alecia dann und Juliana wurde immer unwohler. Irgendetwas an dieser Alecia war seltsam, unwirklich und unheimlich. Fast schon unmenschlich. Alecia lachte leise. Wie zur Bestätigung, dass Julianas Gedankengänge keineswegs abwegig waren.

Julianas Beine zitterten, ihr Atem beschleunigte sich und in ihrem Kopf hörte sie den Startschuss. - Sie sprang auf, rannte zur Tür, doch wie aus dem Nichts tauchte Alecia vor ihr auf. Juliana schreckte zurück, hielt die Arme vor sich, wie zum Schutze. Alecias Hand schnellte nach vorne und Juliana kniff die Augen zusammen. Dann spürte sie eine leichte Berührung an ihrer Schulter. Wie eine beruhigende Geste.

»Heute brauchst du mich nicht zu fürchten. Ich bin mit einer wichtigen Nachricht zu dir gekommen. Es geht um Lucas und um deine vergessenen Erinnerungen.«

Langsam ließ Juliana ihre Arme fallen. Sie hatte etwas vergessen? Ihr fehlten Erinnerungen? Plötzlich war alles so klar. Die merkwürdigen Träume. Das unruhige Gefühl, dass ihr irgendetwas entfallen war und die kurzen Erinnerungsstücke, die sie nicht hatte zuordnen können.

»An was kann ich mich nicht erinnern?«, fragte sie. Alecia umschloss ihr Handgelenke, zog sie langsam hinter sich her, und deutete ihr an sich zu setzen. Juliana wagte es nicht ihr zu widersprechen. Als Alecia ihr wieder gegenüber saß, fragte sie dennoch noch einmal. »An was kann ich mich nicht erinnern?« Wieder lachte Alecia, doch diesmal war es mit einem Hauch von Trauer vermischt, dann sagte sie »An eine vergessene Liebe.«

Mondlicht ErinnerungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt