40

2.1K 151 78
                                    

Ich war gerade Zuhause angekommen. Hatte die Wohnungstür hinter mir ins Schloss geschmissen, auch wenn es mir im Moment an Kraft fehlte. Ich war unglaublich wütend auf mich. Warum hatte ich Chan bloß von meinen Gefühlen für ihn erzählen müssen?
Doch die Wut hielt nicht lange an, da es mir immer noch schlecht ging und mein Vater bei meiner Ankunft sofort alle Notmaßnahmen ergriffen hatte und mich ins Bett geschickt hatte, während er sich zur Apotheke aufmachte, die bald schließen würde.
Es war Mai. Und obwohl der Sommer noch nicht richtig begonnen hatte, hatten die Temperaturen im Bus und das Fieber bewirkt, dass die Bluse meiner Schuluniform mir nun wie Tesafilm an der Haut klebte.
Als ich hörte, wie die Wohnungstür ein weiteres Mal zufiel, steuerte ich in Richtung Badezimmer. Er war weg, ich würde eine Dusche nehmen und schließlich nicht ganz verschwitzt ins Bett gehen müssen. Außerdem konnte eine Abkühlung mir bestimmt dabei helfen, meine Gedanken zu ordnen und den Kopf ein wenig aufzufrischen. Also stieg ich in die Dusche und stellte das Wasser auf die Stufe, bei der ich normalerweise schockgefroren und wie ein Eisklotz aus der Wanne gefallen wäre. In diesem Moment gab es jedoch nichts besseres. Ich benutzte nicht einmal Shampoo oder Duschgel. Das kalte Wasser prasselte einfach auf mich hinab, wie der Regen im September.
Nach ein paar Minuten hatten mich das Wasser dann aber bis ins Mark ausgekühlt und ich hüllte mich in meinem weichen Pyjama ein.
Und tatsächlich schien ich lange genug im Badezimmer gewesen zu sein, dass mein Vater zurückgekehrt war, ohne dass ich etwas mitbekommen hatte. Er saß bereits im Esszimmer, als ich mich nach dem Duft erkundigte, der bis in mein Schlafzimmer geströmt war. Auf dem Tisch vor ihm standen eine dampfende Suppenschüssel, ein ebenfalls heißer Tee und die Medizin, die ich wie er mir direkt mitteilte, nach der Mahlzeit einnehmen sollte.
Ich war nie oft krank gewesen, als Jugendlicher gar nicht mehr und wahrscheinlich war diese Tatsache auch der Grund dafür, weshalb mein Vater mir gleich zweimal das Thermometer reichte und darauf achtete, dass ich auch wirklich alles aß, das auf dem Tisch stand.
Er sprach mit mir über meinen Nachmittag, auch wenn er mehr Fragen stellte, als ich Antworten gab, aber zumindest konnte ich somit sichergehen, dass ihm nichts fehlte. Obwohl er einen anstrengenden Tag hinter sich haben musste - die Ringe unter seinen Augen verrieten ihn -, war er zur Apotheke gelaufen und vernachlässigte seine Pflichten als Elternteil keineswegs.
Nachdem ich also mit dem Essen fertig war und die Medizin geschluckt hatte, wurde ich sofort von ihm in mein Schlafzimmer geschickt, indem man schon Vorhänge vor die Fenster gezogen hatte. Darüber hinaus hatte man zwei extra Decken herangeholt, die Tagesdecke von meinem Bett entfernt und ein Glas Wasser auf meinem Nachttisch hinterlassen.
Hatte man einen Vater wie ihn, brauchte man gar keine Mutter.
Zuerst zauberte mir dieser Gedanke ein Lächeln auf die Lippen, doch es verschwand schnell wieder. Etwas dergleichen war mir bereits mehrere Male durch den Kopf gegangen, auch wenn mir die Bedeutung dieser Weise bewusst war. Jeder Mensch brauchte eine Mutter, selbst wenn es manchen Leuten wie mir daran fehlte.
Und genauso wenig, wie ich über meine fehlende Mutter hätte urteilen sollen, so hätte ich auch Chan nicht meine Gefühle gestehen sollen. Immerhin konnte ich nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob es sich bei diesen Gefühlen um Liebe handelte. Ich hatte noch nie für jemanden auf diese Art gefühlt. Alles erschien mir so kompliziert und verworren. Je mehr ich über diesen Fehler und seine Reaktion nachdachte, desto mehr schmerzten Kopf und Brust. Herzschmerz?
Schnell verbannte ich diesen Begriff mit einem Kopfschütteln aus meinem Bewusstsein und schloss die Zimmertür hinter mir.
Ich kuschelte mich den Berg von Decken ein und merkte: Die Medizin machte mich zwar benommen, aber noch lange nicht schläfrig. Meine Augen waren noch lange nicht schwer genug, um zuzufallen und mich in einen erholsamen Schlaf zu wiegen. Nachdem ich ein paar Minuten Löcher in die Luft gestarrt hatte, fiel mein Blick im Dunkeln auf den kleinen Kalender, der sich neben dem Glas und meinem Handy auf dem Nachtisch befand.
Mit dem Entschluss, dass es wohl noch etwas dauern würde, bis ich einschlief, schaltete ich schließlich die Nachttischlampe an. Nahm vorsichtig den Kalender zur Hand - tatsächlich hatte ich ihn seit März nicht mehr umgeblättert. Er zeigte den Monat, in welchem die Jungs und gerade kennengelernt hatten und ein dickes Kreuz kennzeichnete den Tag, an dem ich zum ersten Mal mit ihnen außerhalb des JYP-Gebäudes verabredet gewesen war. 18 Uhr - Stadt, stand dort geschrieben. Bei der Erkenntnis, dass dieser Kasten jenen grauenvollen Abend kennzeichnete, musste ich erschrocken aufkeuchen. An diesem einen Tag hatte ich so viele schöne, aber auch schlimme Sachen erlebt. Erst das Essen mit den Jungs und das Schlendern durch die Fußgängerzone und dann plötzlich die Gasse, Shiwon und Jeongin. Und zusätzlich hatte mein Vater von all den Lügen und unserer Freundschaft erfahren.
Wie gern ich die Erinnerungen an diese Momente doch vergessen hätte!
Aber es war nicht einfach nur das, was mich zum Seufzen brachte: Nur ein Monat war seit diesem Tag vergangen und trotzdem fühlte es sich an wie eine Ewigkeit. Beinahe hätte ich all die schlimmen Bilder aus meinem Gedächtnis verbannt, doch jetzt ging mir alles noch einmal durch den Kopf - so wie es schon oft passiert war. Die Flucht vor den Fans, Shiwon und seine Berührungen, Chan, der mir zum Schutz vor neugierigen Blicken seine Cap aufgesetzt hatte, Jeongins Verletzungen und wieder mein Vater, der seit jenem Abend im Krankenhaus einen Teil seines Vertrauens in mich verloren haben musste.
Ich blätterte den Kalender eilig auf das richtige Datum und warf ihn zurück auf den Tisch. Als ich mich daraufhin zurück in die Kissen sinken ließ, öffneten sich meine Atemwege endlich wieder und erleichtert atmete ich aus.
Ich sollte schlafen! Und vor allem diesen Tag vergessen, der mir so viele Sorgen und Angst bereitet hatte. Ich wollte niemals wieder an die blauen Flecken denken müssen und das würde ich auch nicht! Erinnerungen würden verblassen - nicht mehr als ein unscharfes Bild darstellen...
Gerade als ich das Licht ausgeschaltet hatte und mich bereit dazu fühlte, in einen tiefen Schlaf zu fallen, so wie es Dornröschen passiert war, machte sich mein Smartphone bemerkbar. Ich stöhnte auf. Das letzte, was mir jetzt noch fehlte, war mein Vater, der mir befahl, das Licht auszuschalten und zu schlafen oder einer der Jungs.
Beide meinten es eigentlich immer gut, wenn sie mich anschrieben, doch ich wollte wirklich alle Gedanken an den heutigen Tag vermeiden und schlafen - das Fieber ausschwitzen und wieder gesund werden. Allerdings schienen die Jungs das anders zu sehen, denn im Gruppen-Chat wünschte man mir zwar hauptsächlich "Gute Besserung" oder fragte nach meinem jetzigen Zustand, aber in den Privatchats wurden genau die Sachen angesprochen, die ich eigentlich nicht beantworten wollte. Und eigentlich hätte über diese Dinge auch niemand bescheid wissen können.
'Es tut mir so leid, ich wollte euch nicht belauschen. Chan war so komisch und ich wollte wissen, was mit euch beiden los war. Bitte sag mir, dass ich mich verhört. Ich kann nicht als einziger dieses Geheimnis mit mir rumtragen', schrieb Hyunjin.'Bitte, antworte bald, Kairi!'
Und als wäre diese eine Nachricht nicht schon Sorge genug, sah ich gleich, dass ich auch noch zwei andere empfangen hatte. Minho schrieb: 'Chan ist euch ja heute hinterher gelaufen. Habt ihr euch gestritten? Er kommt nicht mehr aus seinem Zimmer raus, seitdem wir Zuhause sind.'
Bestimmt dachte Chan gerade über meine Worte nach und meine Reaktion, nachdem er behauptet hatte, ich hätte aufgrund des Fiebers keine Ahnung, was ich von mir gab. Ich hoffte einerseits, dass er erkannte, wie er mich mit dieser Aussage verletzt hatte. Anderseits hoffte ich aber auch, dass er meinem Geständnis keinen Glauben schenkte. Ich hatte an diesem Nachmittag unüberlegt gehandelt und das sollte auf gar keinen Fall unsere Beziehung zueinander verändern, auch wenn unser Verhältnis bereits nicht mehr so war wie früher.
Und wie um alles in der Welt, hatte Hyunjin es geschafft uns unbemerkt zu belauschen und von meinen Gefühlen für Chan mitzubekommen. Ich war unfassbar sauer - nicht auf ihn - auf das Schicksal. Warum musste sich alles immer zum Schlechten wenden?
Als nächstes schaute ich mir Felix Nachricht an und erwartete Anfangs noch eine halbwegs ertragbar Information mitgeteilt zu bekommen. Doch wieder schien es nicht so zu kommen, wie ich es wollte. 'Hallo Kairi. Hyunjin hat mir von deinem und Chans Gespräch erzählt. Wenn du reden möchtest, kannst du mich jederzeit anrufen. Hyunjin hat, glaube ich, Schuldgefühle oder so, er ist ein bisschen still. Vielleicht rufst du ihn ja auch mal an.'
Augenblicklich betätigte ich den Power-Knopf an der Seite meines Handys und der Bildschirm wurde schwarz, denn es blieb mir einfach nichts anderes übrig, als das Ding auszuschalten. Ich hatte keine Kraft mehr dazu, nun jemandem zu antworten und vor allem nicht, wenn ich unmöglich eine Antwort auf diese Fragen geben konnte, ohne dass letztendlich alle Jungs von unserem Gespräch bescheid wussten. Wütend schloss ich Augen und Lippen. Zog mir die Decke soweit ins Gesicht, dass es gerade reichte, um zu atmen und fiel in einen unruhigen, traumlosen Schlaf.

Hidden Face [Stray Kids FF]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt