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Die Steine unter meinen Füßen knirschten leise, als ich den schmalen Schotterweg zum Flussufer hinunter lief. Die Übelkeit war noch nicht abgeklungen, aber das würde sie wohl auch nicht mehr bei der Menge an negativen Gedanken, die mir in diesem Moment durch den Kopf gingen. Verzweifelt versuchte ich den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken, auch wenn es bereits zu spät war. Meine Sicht war aufgrund der Tränen verschwommen und ich hatte Schwierigkeiten nicht über den unebenen Boden zu stolpern. Es war offensichtlich und nun wurde mir bewusst, dass es mir alles andere als gut ging und die Kommentare hatten das Ganze nicht unbedingt besser gemacht. Viel mehr hatten sie das Fass zum überlaufen gebracht, denn anders hätte ich mir die feuchten Wangen nicht erklären können. Da ich mich ursprünglich jedoch nur von den Jungs hatte entfernen wollten, um einen klaren Kopf zu bekommen und nicht damit ich ungestört weinen konnte, wischte ich mir die salzige Flüssigkeit schnell aus dem Gesicht.
In Situationen wie dieser begann ich oft zu bereuen. Zu bereuen, das ich der Mensch war, zudem mein Leben mich gemacht hatte. Ich trauerte den Zeiten nach, in welchen alles noch so einfach gewesen war, aber letztendlich hatte ich mir die Probleme alle selbst eingebrockt. Ich hätte es besser wissen müssen, dachte ich beim Betreten des weiten Ufers. Doch wie hätte ich es besser wissen sollen, wenn ich damals blind vor Einsamkeit gewesen war? Ich hatte mich unüberlegt in eine Freundschaft hineingestürzt, die alles nur noch schlimmer gemacht hatte und mich mich zurück in die alten Zeiten wünschen ließ.
Seufzend richtete ich meine Frisur unter der Schatten spendenden Mütze - die Tränen zu unterdrücken, hatte ich dann doch aufgegeben. Zum Glück wurden es nun aber weniger, da ich bemerkte, was für einen Schwachsinn ich schon wieder dachte. Weshalb kam mir so etwas in den Sinn? Verdiente es jemand, der an so etwas dachte, überhaupt als Freund bezeichnet werden?
Vielleicht lag mein Verhalten einfach an meinem derzeitigen Zustand. Konnte es etwas mit der Übelkeit, den Kopfschmerzen und der hohen Körpertemperatur zutun haben? Möglicherweise hatte ich ja einen Sonnenstich.
Mit in Falten gelegter Stirn ließ ich mich auf einem großen Stein nieder, denn ich wollte der Sonne mit meiner sowieso schon hohen Körpertemperatur nicht näher sein als nötig, selbst wenn das Wasser des Han-Rivers mir wie ein riesiger Spiegel entgegen leuchtete und die Bemühungen somit eigentlich umsonst gewesen waren.
'Kennt ihr Park Kairi?', war das erste der Kommentare an Stray Kids im Vlive gewesen und wahrscheinlich hatte diese Frage erst alle anderen Kommentare ausgelöst. Je länger ich also darüber nachdachte, wie es dazu hatte kommen können, dass man mich jetzt auch schon in ihrem Live-Video erwähnt hatte, wurde das Sitzen unter der Sonne allmählich unangenehmer.
Schließlich hielt ich es nicht mehr aus, woraufhin ich mir beim Aufstehen einen flachen Stein schnappte. Ich hatte das schon einmal an einem See in der Nähe Seouls beobachten können, als ein Junge Steine über das Wasser hatte springen lassen und irgendwie glaubte ich, dass es mir vielleicht helfen könnte. Wie genau es funktionierte, wusste ich nicht, aber das tat dann auch nichts zur Sache. Den Stein im dunkelblauen, fast grünen Wasser zu versenken, half mir jedes einzelne der Kommentare aus dem Kopf zu verbannen. Es war, als wären sie die Steine selbst gewesen und so verschwand eine Sorge nach der anderen im Fluss.
Der erste Steine, der zweite Kommentar: 'Als ob sie die Tochter von JYP nicht kennen! Die schmeißt sich doch jetzt an jedes Idol ran.'
Die dritten Sorgen bereitenden Worte, machten sogar ein paar Sprünge und brauchten eine Sekunde bevor sie in den sich bewegenden Massen verschwanden. Dass jemand schreiben würde, dass er mich aus der Schule kannte, hätte ich nie erwartet. Aber das schien nicht gereicht zu haben, denn diese Person hatte anscheinend auch noch ganz andere Dinge im Kopf gehabt: 'Dort schmeißt sie sich auch an jeden Typen ran, wen der nur genug Geld hat.'
Und dass ich im Unterricht immer so tun würde, als wäre ich etwas besseres, hatte ich ebenfalls nicht erwartet, unterstellt zu bekommen. Erst hatte ich mich gefragt, wer das wohl geschrieben haben könnte, da diese Person in meiner Klasse zu sein schien, doch genau so wenig konnte ich wissen, wer behauptet hatte, dass ich total eingebildet sei.
Der letzte Stein sprang sogar dreimal über die Wasseroberfläche, bis er nicht mehr zu sehen war. 'Sie muss echt Mut haben, so wie sie aussieht.' Ich hatte noch nie groß über mein Aussehen nachgedacht, so sehr wie ich jetzt daran zweifelte, war mir allerdings auch bewusst, dass es nur die Meinung einer bestimmten Person gewesen war. Der Eindruck eines Menschen, der wahrscheinlich Kommentare über andere Leute im Internet machte, die er nicht mal kannte. Und deshalb entschied ich, den Verfasser dieser Nachricht nicht zu sehr zu hassen. Es würde immer Vorurteile geben, denn niemand konnte verhindern, sich eine Meinung zu bilden.
Die Tränen waren mittlerweile gänzlich getrocknet. Benommen starrte ich aufs Wasser - still zu Fäusten geballte Hände - und als hätte man mein Leiden erhört, fiel plötzlich ein kleiner neon-gelber Gegenstand vor meinen Fußspitzen zu Boden. Verdutzt nahm ich den Tennisball in die Hand und sah mich nach seinem Besitzer um, als mir auf einmal ein hechelnder Golden Retriever an den Beinen hoch sprang. Sein wackelnder Schwanz und die zu einem Lächeln geöffnete Schnauze verhinderten, dass ich erschrocken zurück wich. In der Ferne sah ich einen jungen Mann, der einen roten Wurfarm in der Hand hielt. Das musste er sein.
Da er auf eine Reaktion meinerseits zu warten schien, ich dem Hund den Ball allerdings nicht direkt ins Maul geben wollte, entschloss ich mich, den Ball zu dem Mann zu werfen. Natürlich war ich mir meiner Fähigkeiten im werfen noch immer bewusst, aber ich hatte noch nie einen Ball für einen Hund geworfen und dieser Hund sah so verspielt aus, dass ich nicht anders konnte. Nachdem der Mann den Gegenstand gefangen hatte und der Hund zu ihm gerannt war, hatten sie ihren Weg in Richtung des Parks fortgesetzt. Für ein paar Sekunden, während ich versuchte das Schwindelgefühl, welches vom Werfen ausgelöst worden sein musste, unter Kontrolle zu bringen, machte sich eine Stimme aus der anderen Richtung bemerkbar.
Da mir diese Stimme bekannt war, drehte ich mich um, doch beim nächsten Schritt blieb mein Fuß an dem kleinen Felsen hängen, auf dem ich zuvor für eine Weile gesessen hatte. Dass er mir also im Weg gewesen war und sich genau hinter mir befunden hatte, fiel mir erst auf, als es bereits zu spät war und ich zu Boden gerissen wurde.
Die Luft wich aus meinen Lungen, als ich mit den Knien und der Hüfte auf den Steinen aufprallte. Es war ein Fall, wie man ihn aus der Kindheit kannte, doch ich war kein Kind mehr, weshalb das weinen ausblieb. Ich versuchte mich lediglich mit schmerzenden Knien aufzurichten, wobei mir die Sonne geradewegs in die Augen leuchtete. Also kniff ich die ebenfalls schmerzenden Augen zusammen und ließ mich wieder auf den Boden fallen. Bevor ich wegen der verschwommenen Sicht noch einmal zu Boden fiel - und dann wahrscheinlich nicht weniger verletzt davon kam - nahm ich mir lieber ein paar Sekunden.
Ich hörte Schritte, wie jemand über den Schotterweg in der Ferne rannte und gerade als ich mich ein zweites Mal erheben wollte, wurde ich unter den Armen gegriffen und auf die Beine gezogen. Nachdem ich meine Augen wieder geöffnet hatte und losgelassen wurde, erblickte ich Minho. "Geht es dir gut?", er beugte sich noch einmal zu Boden, um mein Handy aufzuheben. Kopf schüttelnd nahm ich das Smartphone entgegen. Obwohl ich mich dazu entschieden hatte, nicht auf sterbenden Schwan zutun, war es an der Zeit ihnen die Wahrheit zu sagen. Durch die wackligen Beine und das gefährliche Schwanken hätte ich ihnen meinen Zustand wahrscheinlich sowieso nicht mehr verschweigen können. Es war offensichtlich, dass etwas mit mir nicht stimmte und das versicherte Minho mir, als er unerwartet eine Hand auf meine Stirn und eine auf seine eigene legte. Unsere Blicke trafen sich, nachdem er eine Diagnose gestellt hatte. "Ich glaube, du bist wirklich nicht in Ordnung. Die Staff sollte sich das mal anschauen.", kam es dann von ihm mit einem Ton in der Stimme, den ich bei ihm noch nie vernommen hatte. "Komm, bevor du noch zusammenklappst." Da er es ernst zu meinen schien und ich ihm nicht widersprechen konnte, setzte ich mich in Bewegung. Peinlich berührt fühlte ich mir dann einmal selbst die Stirn, doch es ließ sich nichts feststellen. Mir war insgesamt so heiß, dass es keinen Unterschied gemacht hätte, wenn ich zuerst Stirn und dann beispielsweise meinen Arm betastet hätte.
Beim Schotterweg kam ich langsam außer Atem, so eilig wie Minho lief. Keuchend stemmte ich die Hände in die Hüften und beugte mich ein wenig vor, damit mir die Sonne nicht ins Gesicht schien. "Können wir etwas langsamer gehen? Ich glaube, ich muss mich sonst übergeben.", verkündete ich nach drei weiteren Schritten und blieb kurz stehen. Irgendwie war ich doch neugierig geworden: "Weshalb bist du eigentlich nicht bei den anderen? Das Video ist doch längst nicht zu Ende oder?"
Um ehrlich zu sein, hatte ich keinen blassen Schimmer, wie lange ich am Ufer gehockt hatte. Er machte Halt - den Blick Richtung Wiese gerichtet, welche ich noch nicht sehen konnte, da nur er die Anhöhe schon erreicht hatte. "Ich bin mitten im Vlive abgehauen. Die anderen waren einfach zu unfähig, aufzustehen und nach dir zu sehen. Dummköpfe.", antwortete er dann seufzend. Da war er wieder, der alte Minho. Selbst in solch einer Situation hatte er kein Problem damit Kritik an anderen Leuten zu verüben.
Nach einem trockenen Lachen, verwandelte sich seine Miene aber wieder zur der von vorher. "Du bist doch nicht wegen den Kommentaren so?", irgendwie kam es mir so vor, als würde er sich wegen dieses Vorfalls Vorwürfe machen und dass wollte ich nicht zulassen, zumal ich mich ja auch vor dem Vlive schon komisch gefühlt hatte. "Nein.", entgegnete ich deshalb. Er nickte und bedeutete mir, mich wieder in Bewegung zu setzen, da die anderen sich Sorgen zu machen schienen. Dafür dass wir sonst so grob miteinander waren und er trotzdem seine eigene Art hatte, über die Dinge zu urteilen, verhielt er sich in diesem Moment ungewöhnlich fürsorglich. Ich konnte mich aber doch unmöglich daran gewöhnen, oder? Nein, so einer war er bestimmt nicht.
Die Sonne brannte in meinem Nacken.

Hidden Face [Stray Kids FF]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt