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Am darauffolgenden Samstag ging es zwar ruhiger zu als in den letzten Tagen, aber nicht unbedingt entspannter. Zusammen mit meinem Vater und Jeongin war ich zur Polizei gefahren. Man hatte unsere Aussage gegen Shiwon aufgenommem und am späten Morgen war ich dann alleine vor Gericht getreten. Da Jeongin nicht an der Gerichtsverhandlung teilnehmen würde, die Verhandlung jedoch nicht ohne das Opfer stattfinden konnte, musste ich es wohl oder übel durchstehen. Ich hatte den Anwalt meines Vaters kennengelernt; ein Mann anfang fünfzig mit ein paar grauen Strähnen im Haar, der mich vor Gericht verteidigen würde. Nicht nur gegen Shiwon und seinen Anwalt, sonder auch seine Eltern. Er hatte sich die einzigen beiden Beweisfotos, die Jeongin und ich ihm hatten geben können, zu nutzen gemacht. Eins von Jeongins Gesicht und den blauen Flecken an seinem Kiefer und eins von mir, welches ich am Morgen nach dem Abend in der Gasse geschossen hatte.
Alles was sich im gesamten letzten Monat ereignet hatte, preiszugeben und meinem Vater somit zu verdeutlichen, von was ich ihm bis zu diesem Zeitpunkt niemals erzählt hatte, wäre jemand anderem als mir nicht angenehmer gewesen. Doch letztendlich, nachdem ich drei Stunden vor Gericht gesessen und unzählbar viele, aber auch unangenehme Fragen über mich ergehen lassen hatte und mich darauf konzentriert hatte, was mein Ziel war, fand ich mich in den weichen Polstern meines Bettes wieder.
Nun schien die Nachmittagssonne durch mein Fenster und brachte einige Staubpartikel zum glitzern. Es würde bald Abend werden, was bedeutete, dass ich mich langsam wieder aufraffen musste.
Das Urteil war gefallen und auch wenn ich mich ungern an Shiwon erinnerte, dachte ich aufstrebend an die Zukunft ohne ihn. Um seine Freunde würde sich mein Klassenlehrer kümmern, sodass ich mir vortan keine Sorgen mehr zu machen brauchte. Denn ich würde die Schule wechseln, sobald ich mich komplett von der Kopverletzung erholt hatte. Ich würde auf Seungmins Schule gehen und obwohl ich von meinen neuen Klassenkameraden nicht weniger Neid oder böse Kommentare erwartete, war ich beruhigt, dort bereits jemanden zu kennen.
Die Uhr zeigte fünf. Es wurde Zeit, mich fetig zu machen. Langsam und schläfrig befreite ich mich aus den Decken und bewegte mich auf den Schrank an der gegenüberliegenden Wand zu, um mir etwas zum Anziehen zu suchen.
War dies der letzte Tag, an dem ich meinem Vater etwas zu verschweigen haben würde? Gestern auf dem Heimweg mit Chan hatte ich darüber geredet, wie ich meinem Vater davon erzählen würde, was wir für einander empfanden.
Ich erinnerte mich an jedes Wort, das ich mit ihm auf dem Weg ausgetauscht hatte. Eigentlich waren wir auch nicht direkt Richtung Zuhause gelaufen, sondern hatten einen Abstecher nach Gangnam zum Seoullo Skygarden gemacht. Beide in Kapuzen gehüllt, doch es hatte gereicht, die Spiegelung der blau-violetten Lichter in seinen Augen funkeln zu sehen.

"Glaubst du er wird es akzeptieren können?"
Chans Arm legte sich um meine Schulter, während wir vom Geländer aus auf die befahrene Straße hinunterblickten.
"Würde es denn etwas an deinen Gefühlen ändern, wenn er sich für die klügere Option entscheidet?", entgegnete er daraufhin mit ruhiger Stimme.
Ich dachte nach, doch eigentlich hatte ich die Antwort auf seine Frage schon vorher gewusst.
Hatte es jemals einen Tag gegeben, an dem mein Vater sich nicht für mich entschieden hatte? Nein, nie. Als ich ihm vor einigen Jahren davon erzählt hatte, dass ich nicht in seine Fußstapfen treten würde und auch kein Trainee werden wollte, hatte er es akzeptiert, ohne es je noch einmal zu erwähnen. Nachdem ich ihn vor gut einem Monat über Stray Kids und meine Freundschaft belogen hatte und daraufhin auch noch meine Identität an die Öffentlichkeit geraten war, hatte er trotzdem entschieden, mir die Nähe zu den Jungs nicht zu verbieten. Er hatte schon immer nur an mich gedacht, selbst wenn ich diese Zuneigung nicht immer erwidert hatte. Und dennoch kamen mir gewisse Zweifel im Bezug auf Chans und meine Beziehung auf. Mein Vater liebte mich zwar und wollte, dass ich glücklich war, doch er wollte ebenso, dass ich außer Gefahr blieb. Außerdem hatte er bestimmt Prioritäten zu erfüllen, was seinen Job betraf.
"Nein, niemandes Meinung kann ändern, wie ich für dich empfinde.", es war neu so frei über meine Gefühle zu reden, aber es gefiel mir.
Chan blickte von der Straße in meine Richtung und nahm sich die Mundschutzmaske ab, während seine Augen gespannt auf mir ruhten. Und auch wenn es mich etwas besorgte, dass sein Gesicht nun für alle Passanten sichtbar war, lauschte ich lediglich seinen Worten.
"Dann wird er sich für dich entscheiden.", verkündete er. "Dein Vater wird sich für deine Variante entscheiden. Er wird nicht die andere, die klügere Möglichkeit wählen."
Wie als hätte der Anblick seines Gesichts eine besondere Wirkung auf mich gehabt, nahm ich mir ebenfalls die Mundschutzmaske ab; Ohne an die rosigen Wangen unter ihr zu denken, welche vor Wärme zu glühen schienen.
Ich lachte aufgeweckt: "Das mag sein. So war er schon immer... vielleicht weil er mein Vater ist."
Für einen Moment herrschte eine angenehme Stille zwischen uns. Dann allerdings fiel mir wieder ein, woran ich zuvor noch gedacht hatte.
"Und wenn er doch nein sagt?", ich hörte einen gewissen Unterton in meiner Stimme mitschwingen. Angst, Ungewissheit und Sorge. Und Chan bemerkte dies sofort.
"Wenn er doch nein sagt, dann finden wir zusammen eine Lösung, okay? Und jetzt lass uns aufhören, uns Sorgen zu machen."
"Was ist mit den Jungs?", es war mir entwichen, bevor ich meinen offenen Mund hatte schließen können. Schnell wandte ich mich ab, um mich zusammenzureißen und seinem tadelnden Blick zu entgehen. "Okay, ich höre ja schon auf."
Eine Weile lehnte ich einfach nur peinlich berührt an seiner Schulter und betrachtete die tausend brennenden Lichter in der Ferne. Dann als ich den Eindruck bekam, etwas von mir geben zu müssen, sah ich wieder zu ihm auf. Sein Blick war ebenfalls in die Nacht gerichtet, doch er schien meine Augen auf sich zu spüren, denn sein Mund öffnete sich zögerlich.
"Heute im Krankenzimmer...", begann er und ich erinnerte mich an unser Gespräch zurück und an den Kuss, den ich ihm dort gegeben hatte. Blut schoss mir in die Wangen.
"Möglicherweise wusste ich es schon länger, aber jetzt bin ich mir sicher. Ich weiß jetzt, dass ich mehr für dich empfinde, als das was man Freundschaft nennt, Kairi.", beim Sprechen hatte seine freie Hand mein Gesicht gefunden und sein Daumen strich mir sanft über die Schläfe. Zur selben Zeit sah ich ihm atemlos in seine dunklen Augen. Sie offenbarten unzählige, verschiedene Emotionen: Aufrichtigkeit, Besorgnis, Liebenswürdigkeit, Ernst und Glückseligkeit.
Erst blickte er mir in die Augen, dann fuhr sein Blick meine Gesichtszüge entlang und blieb schließlich an einer Stelle hängen. Und ich konnte nicht verhindern, dass mit mir dasselbe passierte. Seine rosigen Lippen waren zu anziehend, als das ich ihnen hätte widerstehen können.
Bevor ich also darüber nachdenken oder den Drang tief in meinem Inneren unterdrücken konnte, schloss er die letzten Zentimeter zwischen uns. Ich hatte es nicht kommen sehen und trotzdem wagte ich es nicht zurückzuweichen.
Seine freie Hand fand Platz hinter meinem Ohr und stützte meinen Hinterkopf, während ich zaghaft den Kuss erwiderte. Nicht zaghaft, weil ich es nicht wollte - nein, der Kuss jagte mir ein euphorisches Kribbeln durch den Magen -, sondern zaghaft weil dies mein erster richtiger Kuss gewesen war. Doch Chan ließ sich davon nichts anmerken, nachdem er sich vorsichtig von mir gelöst hatte. Es erschien ein Lächeln auf seinen Lippen, das sofort seine braunen Augen erreichte und mir umgehend klar machte, weshalb ich mich in ihn verliebt hatte.
Ich spürte, wie seine Hand einen angenehmen Druck auf meine ausübte. Das strahlende Lächeln hatte seinen Weg wie von selbst auf mein Gesicht gefunden.
Was auch kommen mochte, ich wusste, wonach ich mich sehnte. Ich wollte ein Leben, dass nicht nur aus Sorgen, Einsamkeit, falscher Gesellschaft und unlustigen Vorsichtsmaßnahmen bestand. Ich wollte der Welt mein verstecktes Gesicht zeigen, Freundschaften knüpfen und stärken, und vor allem wollte ich eins: Das dieser Moment niemals endete. Mit dem Rauschen der Autos und Busse, den Lichtern der lebenden Stadt neben dem Mond am Himmel und Chan.

Ende.

Hidden Face [Stray Kids FF]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt