Kapitel 16

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Ich weiß nicht, wie lange ich gefahren bin, aber als ich aufwache, ist es draußen schon dunkel.

Ich frage mich, ob es schon jemandem aufgefallen ist, dass ich plötzlich nicht mehr da bin.

Im Zug sind nur eine handvoll weitere Personen, die allesamt mit irgendetwas beschäftigt sind.

Gelangweilt sehe ich mich um und entdecke eine Uhr schräg vor mir. 19 Uhr 34 zeigt mir diese an.
Okay, ich habe für meine Verhältnisse echt lange geschlafen.

Ich sehe aus dem Fenster und seufze.
Die anderen Passagiere spiegeln sich in der Scheibe: ein paar ältere Frauen unterhalten sich, ein junges Paar liest Zeitung und halten Händchen und ganz am anderen Ende sitzt ein Mann im Anzug und starrt glücklich vor sich hin.

Werde ich etwas in London vermissen?

Mein Handy vibriert und ich spüre ein seltsames Gefühl in mir.

3 neue Nachrichten, steht auf dem Bildschirm.

Henry - Wo zur Hölle bist du?

Matthew♡ - Dein Bruder hat mich angerufen, wo auch immer er meine Nummer her hat. Was ist passiert? Bist du okay?

Henry - Joshua?

Ich schreibe ein einfaches ,Ich gehe nach Hause' an Henry und antworte anschließend Matthew mit einer etwas längeren Nachricht:

Ich - Mach dir keine Sorgen, ich gehe nach Hause, denn ich möchte nicht mehr dort sein, wo ich eh nie mehr willkommen war. Ich werde dich vermissen. Danke für alles, Matt xxx

Matthew♡ - Joshi, bitte verlasse mich nicht. Bleib bei mir. Ich verspreche dir, dass ich alles tun werde, damit du dich hier wohlfühlst.

Ich - Es ist zu spät, Matthew, aber danke für das Angebot. Ich hoffe, du findest bald jemanden, mit dem du glücklich werden kannst, denn ich konnte es nie. Ich wünsche dir alles Gute.

Nachdem ich die Nachricht abgeschickt habe, schalte ich mein Handy wieder aus und lege es vor mir auf den Tisch.

Nur noch fünfzehn Minuten, dann bin ich zurück in Cornwall.

Ich liebe es jetzt schon.

Hier ist es das ganze Jahr über schön.

Zum Glück ist Maggie zur Hälfte die Teilhaberin des Hauses, sodass ich problemlos hier wohnen kann.

Als der Zug anhält, springe ich erfreut heraus und laufe schnell zu unserem Haus.

Nach vierzig Minuten stehe ich endlich vor dem Haus. Hier gehöre ich wirklich her.

Das Haus ist einfach großartig. Früher war es ein altes Farmhaus mit grauen Balken und hellen Fensterrahmen und es gibt sogar noch einen echten Kamin!

Nur leider sind die Pflanzen vertrocknet und schon fast grau. Darum werde ich mich später definitiv kümmern.

Ich greife unter die Fußmatte und spüre das vertraute, kalte Metall des Schlüssels. Langsam schließe ich die Haustür auf und der vertraute Geruch aus frischem Brot und alten Büchern strömt mir entgegen.

Ich liebe diesen Geruch. Mein ganzes Leben lang war Dads Bücherei mein Lieblingsort, gleich nach dem Wald hinter unserem haus. Leider wurden ein paar Bücher gespendet und ein paar verstauben auf dem Dachboden, aber es sind noch genug übrig für mich. Ich muss unbedingt mal wieder eins lesen.

Freudig renne ich nach oben in mein Zimmer, werfe den Rucksack in einer Ecke und schmeiße mich auf mein Bett, wo ich auch schnell einschlafe.

Ich träume von dem Wald hinter dem Haus, wo ich mit meinen Eltern und Henry picknicke.

Ich vermisse sie schrecklich und fühle mich extrem einsam, als ich aufwache.

Ich werde definitiv noch ein symbolisches Grab im Wald erschaffen.

Um acht Uhr sitze ich relativ entspannt im Garten und frühstücke ein paar Snacks, die ich im Rucksack hatte.

Ich muss unbedingt noch einkaufen gehen.

Aber erst einmal mache ich mich auf den Weg in den Wald zu meinem Lieblingsort. Dieser muss zuerst besucht werden.

Ich renne hinein, direkt zu unserem Familienbaum.

,The Crane-Family ist die beste Familie ever' wurde da in Großbuchstaben eingeritzt. Wenn ich mich richtig erinnere, war ich da gerade zwölf Jahre alt. Darunter ist ein verkrüppelte Herz, das glaube ich von Henry stammt.

Da war noch alles gut. Ich wünschte mir, man könnte die Zeit zurück drehen... ich würde da so vieles anders machen...

Ich laufe weiter und komme an einen kleinen Teich, wo sogar nich die Bank steht, die Dad damals gebaut hat. Sie ist zwar ziemlich dreckig und morsch, aber sie ist noch da.

Lange sitze ich dort und starre gedankenverloren auf das klare Wasser.

Plötzlich kreuzen ein paar Hasen den Weg und ich lächle glücklich. Hasen sind so niedliche kleine Tierchen.

Aber warum sollten Hasen rennen, wenn alles ruhig ist?

Mein Herz fängt an, sehr schnell zu schlagen und ich drehe mich langsam mit der Erwartung herum, dass gleich etwas schlimmes passieren wird.

Aber dort stehen nur drei mir bekannte Personen.

Zum einen sehe ich Tante Maggie, die freudig Tränen vergisst und meinen Brider Henry, der einen Arm um sie gelegt hat.

Und hinter ihnen befindet sich... Matthew?

,,Ich wusste, dass du hier bist.", sagt Henry und kommt langsam auf mich zu.

,,Es tut mir so leid, Joshi. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich für mein Verhalten schäme. Du warst so traurig und ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Ich weiß, dass ist keine Entschuldigung, aber ich hoffe, du kannst mir trotzdem verzeihen."
Er holt einmal tief Luft und kann nur mit Mühe seine Tränen zurückhalten.
,,Es tut mir so leid, Joshi. Ich bin ein echt schrecklicher Bruder."

Auch mir kommen langsam die Tränen. Das die drei hier sind, bedeutet mir so viel. Und auch Henrys Entschuldigung lässt etwas angenehm Warmes in mir aus.

,,Ich verzeihe dir.", versuche ich so leise wie möglich zu sagen und schlinge meine Arme um Henry.
Meine Schultern beben, als meine Tränen sein T-shirt durchlassen.

Sobald meine Tränen versiegen, drehe ich mich zu den anderen herum.

Tante Maggie beobachtet uns und muss sich ebenfalls das Weinen verkneifen und Matthew tritt die ganze Zeit von einem Bein aufs andere.

Ich verwuschel Henrys Haar, obwohl ich ganz genau weiß, dass er das hasst, aber dieses Mal lächelt er mich lieb an und geht einen Schritt zurück.

Ich löse meine Arme von seinem Oberkörper und schaue zu dem hübschen Mann, bevor ich auf ihn zu renne und ich mich unsanft in seine Arme werfe.

Matt kann sich gerade noch halten, sonst wären wir wahrscheinlich im Gras gelandet.

Fest umarme ich ihn und ich habe schon Angst, dass ich diesen wundervollen Mann zerquetsche, aber nach einer kurzen Zeit erwidert er die Umarmung genauso fest.

,,I-ich kann d-das nicht.", schluchze ich hoffentlich so laut, dass alle drei es hören können.

Plötzlich löst sich Matthew von mir und schaut mich mit einer Mischung aus Freude und Sehnsucht an.

,,Lass mich dir helfen.", zeigt er mir und mein Bruder und Maggie lächeln und nicken als Zustimmung.

Ich drehe mich wieder zu Matthew.

Wie in Trance nicke ich leicht.

Das ist es also.

Ich bin frei.

The Deaf and The Rich | Deutsche ÜbersetzungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt