Stürmisch betätige ich die Klingel und warte darauf, dass Lilly mir öffnet. Zwei Sekunden später geht die Tür auf „Hey Lilly, du musst mir unbedingt sagen..." Mitten im Satz stoppe ich, als mir bewusst wird, dass es gar nicht Lilly ist, die vor mir steht.
Vollkommen überrascht und auch überfordert starre ich in die blauen Augen meines Gegenübers. Mein Herzschlag beschleunigt sich mit jeder weiteren Sekunde, die verstreicht, während wir stumm dastehen und uns einfach nur ansehen.
„Hey", bringe ich schließlich hervor. Wieso zum Teufel bin ich auf einmal so verunsichert?
Langsam löst sich Colins Blick von meinen Augen und er mustert meinen Körper. Besser gesagt, das, was ich an meinem Körper trage. Nämlich die Klamotten von Mr. Sunnyboy. Plötzlich bin ich wahnsinnig nervös. Was denkt er jetzt bloß von mir?
„Na, gut geschlafen?", fragt er mich kalt. Ich zucke innerlich bei seinem abweisenden Ton zusammen. Scheiße. So habe ich ihn noch nie erlebt.
Vollkommen perplex habe ich keine Ahnung, was ich darauf sagen soll. Colin nimmt mein Schweigen anscheinend falsch auf, denn plötzlich setzt er sich in Bewegung und geht schnaufend an mir vorbei.
Als seine Schultern meine berühren, erwacht etwas in mir zum Leben. Etwas, das es auf jeden Fall verhindern will, dass Colin geht und mir stattdessen zuhört. Mir glaubt. „Colin, warte!", rufe ich ihm zu, als er schon einige Schritte von mir entfernt ist. Dieser ignoriert meinen Ruf jedoch und geht einfach weiter.
„Ich habe gesagt, du sollst warten!", versuche ich es erneut und renne ihm nun hinterher. Colin bleibt so unerwartet stehen, dass ich fast in ihn hineingekracht wäre, doch im letzten Moment kann ich mich bremsen.
„Du hast ein völlig falsches Bild von dieser Situation", will ich ihm erklären. Ich möchte unbedingt, dass er versteht, dass nichts zwischen mir und dem Sunnyboy passiert ist. Auch wenn ich ihn küssen wollte. Aber das schiebe ich mal auf die Mischung von Alkohol und Gefühlschaos.
Zweifelnd zieht er die Augenbrauen in die Höhe. „Achja? Dann klär mich doch auf." Erneut betrachtet er die fremden Klamotten an meinem Körper skeptisch, sodass ich mich darin völlig unwohl fühle. Ich hätte einfach wieder in mein Ballkleid schlüpfen sollen.
„Ich weiß nicht, ob ich gestern irgendwas zu dir gesagt habe, was dich so verärgert, aber falls es deswegen ist, weil du denkst, ich hatte was mit einem anderen, ist dein Ärger umsonst, denn es ist absolut nichts passiert", plappere ich schnell vor mich und hoffe nur, dass er mir glaubt. Er muss mir einfach glauben.
Für einen kurzen Moment erkenne ich die Unsicherheit in seinen Augen aufflackern, doch der Augenblick ist schnell wieder vorbei. „Vergiss es einfach, Vivien."
Fast bilde ich mir ein zu spüren, wie jemand ein Messer in mein Herz rammt. Der abfällige Ton. Der verletzte Ausdruck in seinen Augen. Ich könnte heulen. Oder jemanden zusammenschlagen. Oder beides.
„Scheiße nein, ich vergesse es nicht einfach. Wieso glaubst du mir nicht?" Meine Stimme wird wütend. Ich habe das Gefühl, als würde mein ganzer Körper unter Flammen stehen.
„Was willst du eigentlich, Vivien? Denkst du, ich kann einfach so tun, als wäre der gestrige Abend nie passiert?" Verzweifelt rauft er sich durch die Haare.
„Was willst du mir damit sagen?" Verwirrt kneife ich meine Augen zusammen. Wieso habe ich ein komplett anderes Bild von diesem Abend als er?
„Erst erwiderst du meinen Kuss, als hättest du dich genauso danach gesehnt wie ich", erklärt er mir aufgebracht. „Dann rennst du von mir davon, tauchst wieder auf, um mir zu erklären, dass du Zeit brauchst, um dir über deine Gefühle klar zu werden, nur um dich daraufhin an einen anderen ranzuschmeißen und bei ihm zu schlafen? Oder hast du sogar mit ihm geschlafen? Ach, weißt du was, ich will es gar nicht wissen."
„Du hast kein Recht darauf, wütend auf mich zu sein, Colin. Soll ich dir noch einmal sagen, dass nichts passiert ist? Willst du es vielleicht noch schriftlich haben? Außerdem, selbst wenn, wir sind nicht zusammen.
Er starrt mich wütend an „Ja, und darüber bin ich auch froh." Autsch. Das war wohl mein Herz, dass gerade in tausend kleine Stücke zersprungen ist. In dem Moment wird mir wirklich bewusst, was alle anderen schon lange vor mir erkannt haben. Etwas, das auch mir viel früher hätte auffallen sollen. Ich habe mich in diesen Idioten verliebt. Doch diese Erkenntnis kommt jetzt wohl zu spät.
„Wenn du mir nicht vertraust, hätte das auch wohl kaum einen Sinn", antworte ich emotionslos. Meine Stimme hat nun denselben kalten Ton wie Colins angenommen. Ich fühle mich völlig leer. Ich bin am Ende.
„Dir vertrauen?" Verbittert lacht er auf. „Denkst du, ich hätte nicht mitbekommen, wie du den Barkeeper küssen wolltest?" Er schüttelt den Kopf. „Ich dachte echt, dass da etwas zwischen uns ist, aber anscheinend habe ich mich geirrt."
„Du hast mich doch nur geküsst, um Gloria etwas zu beweisen." Es ist ein verzweifelter Versuch, diesen Streit aufrecht zu erhalten, denn ich habe das bittere Gefühl, dass es endgültig vorbei ist, wenn keiner mehr etwas zu sagen hat.
Für einen Moment sieht er mich schweigend an. Dann kommt er einen Schritt auf mich zu. Seine Hand zuckt, als würde er sie heben wollen, doch sie bleibt schließlich ruhig. „Du weißt ganz genau, dass das nicht stimmt", flüstert er schon fast. Er wirft mir einen letzten Blick zu, dann dreht er sich um und geht einfach. Lässt mich hier stehen. Allein.
„Du bist so ein Arsch, Colin!", rufe ich ihm wütend hinterher, obwohl er schon längst verschwunden ist.
„Vivien?", höre ich plötzlich eine Stimme neben mir. Ich drehe mich um und erkenne Lilly, die mich verunsichert ansieht. Erst dann fällt mir auf, dass ich ursprünglich ja zu ihr wollte.
„Was hat Colin bei dir gemacht?", frage ich sie vorwurfsvoll. Ich weiß, dass es unfair ist, meine Wut an ihr rauszulassen, aber ich kann gerade nicht anders.
„Er...", sie zögert.
„Was?", blaffe ich sie an.
„Vivien, was ist gerade passiert?" Sie geht einen Schritt auf mich zu und will mich Umarmen, doch ich blocke sie ab. Mitgefühl ist das letzte, was ich gerade von ihr brauche.
„Du hast meine Frage nicht beantwortet."
Sie seufzt leise auf. „Colin war ziemlich aufgebracht und wollte mit jemandem reden."
„Warum?"
Sie lässt ihren Blick zu Boden sinken. „Kannst du dir das nicht denken?", fragt sie mich vorsichtig, doch ich kenne sie zu lange. Ich kann den vorwurfsvollen Ton in ihrer Stimme ganz genau herausfiltern.
Völlig baff starre ich sie an. Denkt sie etwa auch, dass da etwas zwischen mir und dem Sunnyboy lief? Wirft sie sich auf Colins Seite?
„Weißt du was? Ihr könnt mich alle mal", zische ich sie an. Dann mache ich kehrt und stolziere davon. Ich laufe in irgendeine Richtung, schaffe es gerade noch meinem Bruder eine Nachricht zu schicken, bevor die ersten Tränen meinen Blick verschleiern. Völlig kraftlos lasse ich mich mitten auf den Gehsteig nieder und verfluche alles und jeden.
Als ich gefühlte Stunden neben mir Schritte wahrnehme, schaue ich auf. Ryan mustert mich für einen Moment. Dann schlingt er wortlos seine Arme um mich und streicht mir beruhigend über den Rücken.
„Ich bringe diesen Idioten um", spricht er leise.
Diese Worte entlocken mir doch tatsächlich ein Lächeln. „Seit wann spielst du denn den überfürsorglichen Bruder? Habe ich etwas verpasst?"
„Soll ich das denn nicht?" Auch er lächelt mich jetzt an.
„Nein, deine ‚mir-ist-alles-egal-Einstellung' passt besser zur dir."
„Okay, dann hör auf zu Heulen und beeil dich gefälligst. Mum hat gekocht."
„Eindeutig besser."
Wir steigen ins Auto ein. Ich freue mich auf eine heiße Dusche und mein Bett. Dann kann ich dem ganzen Chaos in meinem Leben wenigstens für eine kleine Weile entkommen.
„Aber ernsthaft, Vivien", sagt Ryan plötzlich. „Du wirst schon klarkommen. Immerhin bist du Vivien. Du lässt dich doch sonst von nichts unterkriegen."
Erschöpft schließe ich meine Augen. „Danke."
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Beziehung für eine Nacht
ChickLitIch bin zu gut für diese Welt. Warum sonst sollte ich auch so tun, als wäre ich in einer Beziehung mit diesem Vollpfosten, nur um den Schwarm meiner besten Freundin nicht küssen zu müssen? So fängt alles an. Eine dumme Party. Eine dumme Aufgabe bei...