Wenn ich ehrlich bin, haben Emmy und ich vor lauter Gequatsche Matt fast vergessen. Gerade amüsierten wir uns über die Vorstellung, wie Matt so Heidi-mäßig mit den Ziegen über die Insel zieht, da glauben wir tatsächlich Gerti meckern zu hören. Gerti kann man eigentlich nicht verwechseln. Sie hat beim Meckern so eine Tonlage, wie das öffnen einer eingerosteten Tür. Offensichtlich lagen wir gar nicht so falsch mit unserer Vorstellung. Merkwürdig nur, daß das meckern immer näher zu kommen scheint. Das Knacken eines trockenen Zweiges läßt unser Lachen abrupt ersterben. Wir sind nicht alleine. Wenn das Frau K. ist und merkt, daß wir uns amüsieren, brummt sie uns die nächste Strafarbeit auf. Doch niemand brüllt uns an. Ich wage einen Blick über die Schulter.
„Aaaarh!" Ich falle vor Schreck fast kopfüber ins Gemüsebeet.
Emmy springt auf. „Was ist denn los? ... Das ist doch bloß Matt."
„Ja, ich bin's bloß ... schhhhh ... sonst kommt noch die Frau K."
„Die Ziegen!" Ich weiß, ich sollte nicht brüllen, aber ich kann mich nicht beherrschen. Emmy und Matt gucken mich verständnislos an.
„Die hab ich draußen festgebunden", sagt Matt und strahlt mich an.
„Äh, nein." Mittlerweile hat sich auch Emmy umgedreht und sieht, was ich sehe: Die Ziegen stehen mitten in Frau K. Salat-Beet und schlagen sich die Bäuche voll.
„Scheiße, Matt, hast du wieder das Tor aufgelassen?" Emmy wartet die Antwort nicht ab. Sie rennt schon durch den Schulgarten, um zu retten, was noch zu retten ist.
Matt schaut mich betröppelt an. Dann realisiere ich selbst in meiner Schock-Starre, was das heißt. Die Ziegen sind drinnen und die Enten wahrscheinlich draußen. Scheiße! Wir werden bis zum Abitur den Reitplatz abäppeln müssen! Ich schiebe Matt zur Seite und renne Emmy hinterher.„Mann, da hat dein Ziegen-Peter ja volle Arbeit geleistet", begrüßt sie mich und zeigt auf die traurigen Reste der Salatköpfe. „Als Schnecken-Fraß geht das jedenfalls nicht mehr durch."
Emmy hat recht, aber: „Was soll das heißen? Mein Ziegen-Peter? Und überhaupt, er kann doch nichts dafür."
„Wenna inna U-Bahn aufgewachsen is', nich', nee." Wenn Emmy sich ärgert, fängt sie immer an zu berlinern.
„War bestimmt keine Absicht", verteidige ich Matt, aber ich merke, Emmy ist echt sauer.
Matt steht bei uns und sieht ziemlich unglücklich aus. „Tut mir leid. Ich kann das Salat ersetzen."
„Ersetzen." Emmy strahlt uns auf einmal an. „Matt, du bist vielleicht gar nicht so bl... AU!" Ich habe Emmy gegen das Schienbein getreten und starre sie mit meinem Halt-die-Klappe-Gesicht an. „Die Idee ist genial", sagt sie jetzt.
„Wieso genial?", frage ich. Manchmal komme ich nicht mit Emmy verrückten Ideen mit.
„Sonntags gibt es meistens Salat zum Abendbrot. Wir holen uns die Salatköpfe aus der Küche und stecken sie einfach ins Beet."
„Äh, du weiß schon, daß Salatköpfe normalerweise Wurzeln haben? Meinst du nicht, daß fällt auf, wenn dein Ersatz-Salat morgen welk und lappig ist?"
„Ist doch egal. Wir können ja jeden Tag neue Salatköpfe drauf stecken." Trotz der Katastrophe, in der wir uns befinden, müssen wir kichern. „Wir sagen dann einfach die Enten hätten sie abgeknabbert." Während Emmy noch kichert, wird mir heiß und kalt.
„Die Enten!"
Jetzt versteht auch Emmy. „Scheiße! Die sind bestimmt getürmt." Sie drückt jedem von uns einen Führstrick in die Hand und wir rennen querbeetein zum Tor. Das steht wie vermutet weit offen. In der Ferne hören wir ein fröhliches schnattern und sehen gerade noch die letzte Laufente aufrecht um die Wegbiegung watscheln.
Je schlimmer die Situation, desto cooler bleibt Emmy. Das hat uns schon das eine oder andere Mal den A**** gerettet. Auch jetzt übernimmt sie das Kommando.
„Los, ihr bringt die Ziegen, wohin auch immer Matt sie bringen sollte. Ich organisiere die Salat. Wer auf eine Ente trifft, fängt sie schon mal ein. Wir treffen uns am Stall."
Emmy flitzt Richtung Internats-Küche, wir zerren die Ziegen nach vorne. Auf dem Weg erzählt mir Matt, daß er mit Francois verabredet ist und der uns helfen will, von der Insel herunter zu kommen. Ich mustere Matt unauffällig von der Seite. Bilde ich mir das nur ein oder sieht er tatsächlich erleichtert aus bei dem Gedanken, hier bald verschwinden zu können. Naja, ich kann's ihm nicht übelnehmen. Wahrscheinlich hat er eine ganz normale Schule erwartet und dann gerät er ohne Vorwarnung direkt in die Fänge des Insel-Dämons. Der kleine Spaziergang mit Matt alleine war schön. Er hätte von mir aus noch ewig dauern können, aber dann sind wir auch schon vorne. Und Francois sitzt tatsächlich auf der Bank vor dem Fährhaus und wartet.
„Ah, da bist du ja ändlisch."
„Francois, du mußt uns helfen." Ich setze meinen Dackelblick auf.
„En francois, s'il te plait." Francois grinst breiter als ein Breitmaulfrosch.
„Tu dois nous aider", antworte ich reflexartig. „Mann. Wir sind auf der Flucht vor Frau K."
„Isch weiß, das 'at mir deine Freund schon erzählt." Er grinst zwar anzüglich und zwinkert, als hätte er 'ne halbe Sandwüste im Auge, aber es braucht einen Moment, bis ich kapiere, wie er das gemeint hat. Gott sei Dank hat er sich da schon eine Ziege geschnappt und marschieret vor uns auf's Stallgebäude zu. Und falls ich heute ausnahmsweise mal Glück habe, fallen Matt hinter mir meine rotglühenden Ohren nicht auf.
Auf dem Weg zu den Ziegen-Boxen erhält Matt gleich noch eine Stallführung von Francois. Kaninchen hier, Schweine da, Kälbchen dort ... die beiden scheinen sich prächtig zu verstehen, obwohl der eine französisch und der andere holländisch spricht. Ich verstehe nicht ein Wort. Ich höre aber auch nicht richtig hin, denn da sind ja noch die Laufenten, die wieder eingefangen werden müssen. Ich gebe zu, das macht mich doch ein bißchen nervös.
„Francois, wir müssen noch die Laufenten einfangen", unterbreche ich die beiden Quasselstrippen. Von wegen, Männer reden weniger als Frauen!
„En fran...." Weiter kommt Francois nicht. Ich stemme meine Fäuste in die Hüften und setze meinen bösen Blick auf. „Hilfst du uns? ... Bitte."Emmy steht schon am Fährhaus, immer wieder schaut sie sich um, wahrscheinlich bereit sofort in Deckung zu springen, sobald Frau K. von irgendwoher auftaucht. Sicherheitshalber scanne ich auch noch mal die Umgebung ab.
„Was machst du?" Francois hat keine Hemmungen einfach so aus dem Stall zu treten. Naja, ihn hat Frau K. heute auch nicht auf dem Kieker.
„Ausschauhalten nach Frau K."
„Ah, die ist beschäftigt mit die Baby-Schafe. Habe isch gemacht, um Natalie von die Insel zu bringen."
Natalie ist Francois aktuelle Freundin. Ich frage nicht, warum Natalie auf der Insel war oder was die Lämmer damit zutun haben. Manche Dinge will ich einfach nicht wissen. Aber Francois scheint sich sicher zu sein, daß Frau K. so schnell nicht wieder auftaucht. Trotzdem flitze ich lieber über den Vorplatz, wo es keinerlei Deckung gibt. Matt scheint es ähnlich zu gehen oder er hat nur nicht verstanden, was Francois gesagt hat. Jedenfalls flitzt er direkt neben mir zu Emmy hinüber. Und das war die beste Idee des Tages. Die Staubwolken hinter uns haben sich noch nicht ganz gelegt, da hören wir auch schon Frau K. Gott sei Dank brüllt sie immer in einer Lautstärke, daß man sie quer über die Insel hört. Wie der Blitz huschen wir ins Fährhaus.
„Hol du die Säge, Herbert, ich gucke, daß ich, daß ich den Engländer finde. Notfalls müssen wir es doch mit dem Franzosen probieren."
Emmy und ich gucken uns entsetzt an. Was haben die vor? Ist die Landwirtin und ihr Mann etwa ein Massenmörder-Pärchen? Gab es vor Francois schon einen Engländer als Praktikanten? Und wo halten die den gefangen?
„Na, wieder da, Mädchen?", brummt Manne-Manfred hinter uns.
„Was wollen die mit Francois machen?" Emmys Stimme ist nur noch ein Hauchen. Ich bin mir sicher, sie schwärmt heimlich für Francois. Auch wenn sie es immer abstreitet.
Manne-Manfred versteht nicht. „Was sollen die denn mit Francois machen?"
„Na, die haben doch gerade gesagt, wenn es mit dem Engländer nicht klappt, dann nehmen sie den Franzosen." Für einen Moment schaut uns Manne-Manfred verdutzt an, dann lacht er los. „Mensch, Mädels", er wischt sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln, „Engländer und Franzose sind Schraubenschlüssel. Die müssen doch hinten das Gehege reparieren. Was habt ihr denn gedacht? Daß die Praktikanten zersägen?" Die peinliche Stille von Emmys und meiner Seite wird durch einen weiteren Lach-Flash vom Fährmann aufgelockert. Ich habe keine Ahnung, ob Matt und Francois überhaupt wissen, worum es geht, aber sie Grinsen zumindest aus Geselligkeit mit und erwidern Manne-Manfreds Schenkel- und Schulterklopfen. Na, Hauptsache, die Männer haben Spaß. Ich ignoriere den Spaß auf meine Kosten und spähe lieber durch die offene Tür auf den Vorplatz hinaus, wo Frau K. und ihr Mann bleiben. Sobald sie in ihrem Haus verschwunden sind, sollten wir die Gelegenheit nutzen und auf Entensuche ausschwärmen.
Da taucht unser Pseudo-Killer-Pärchen auch schon auf. Während Frau K. die Tür aufschließt – sie schließt zum Schutz vor uns hormongesteuerten Hirnamputierten (ihre Worte, nicht meine) immer ab – also, während sie die Tür aufschließt, schnappt sich ihr Mann die Ziegenmilchkannen und schlüpft hinter ihr ins Haus, bevor die Tür zufällt. Sonntagnachmittägliche Stille legt sich über die Insel. Für einen Augenblick jedenfalls. Für ein paar Sekunden. Was ich dann sehe, läßt mir den Atem stocken.
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Feuerherz - My heart's on fire ( Mein Tag mit Matt)
FanficWas kann alles passieren, wenn man endlich einmal alleine zum Konzert der Lieblingsband darf und dann feststellt, daß einer der Jungs vom Rest der Band vergessen wurde.