"Jessica! Aufwachen! Hast du überhaupt zugehört?"
"Nein, tut mir leid. Könnten Sie die Frage bitte wiederholen?", entschuldige ich mich bei meiner Mathelehrerin, welche sich jedoch nur kopfschüttelnd der Tafel zuwendet.
Aus der letzten Reihe höre ich Gekicher und ich spüre die Blicke von Kimberly und ihren beiden Anhängerinnen in meinem Rücken. Ich schreibe schnell die Aufgabe weiter ab und versuche die drei Schlangen zu ignorieren. Sie hatten mich seit der fünften Klasse schon auf ihrer Abschussliste und egal was ich tat, es hatte sich bis jetzt nichts geändert. Aber zum Glück ist dieses Jahr noch die zehnte Klasse vorbei und die Klasse wird in verschiedene Kurse aufgelöst, bei welchen ich nur hoffen kann, in so viel wie möglich andere als sie eingeteilt zu werden. Und dann mache ich mein Abitur und bin hier raus!Viel zu lange dauert es bis zum befreienden Klingeln. Ich werfe meine Bücher hektisch in meinen Rucksack, damit ich meinen Bus rechtzeitig erwische. Ich verlasse als erste das Klassenzimmer und stürme durch die noch leeren Gänge des Schulgebäudes und auf den, von Bäumen beschatteten, Pausenhof. Einfach weg von hier! Es ist nicht so, dass ich meine Schule hasse, aber wenn ich die Möglichkeit hätte sie zu verlassen, würde ich es tun. Ich habe nichts gegen Lernen oder Tests, mein einziges Problem mit der Schule ist, dass ich der totale Außenseiter bin. Ich verbringe meine Pausen meist alleine auf dem Schulklo und wenn ich mal einen Sitznachbarn habe, dann weil ein Lehrer ihn umsetzen musste und ich als ruhiges, stilles Mädchen gelte.
Ich stecke mir meine Kopfhörer in die Ohren und drehe die Musik voll auf, Hauptsache ich muss das sinnlose Gequatsche anderer Leute nicht hören. Ich muss mich etwas beeilen um meinen Bus noch rechtzeitig zu erwischen, lasse mich aber wenig später auf einen Platz am Fenster sinken. Gerade dröhnt ein Lied von Metallica durch meinen Kopf, eine Musikrichtung die ich liebe, aber die meiner Mutter zu viel wird, wenn ich sie so laut wie möglich durch die Box in meinem Zimmer abspielen lasse. Deshalb muss ich Zuhause eher ruhigere Musik hören, aber ich bin in Sachen Musikrichtungen recht flexibel. Nach einiger Zeit habe ich sogar die Vorteile von Klassik entdeckt, aber hören tue ich sie dann doch eher selten oder eigentlich gar nicht. Die Landschaft zieht schnell an mir vorbei und ich sehe aus dem Fenster und lasse meine Gedanken abschweifen.Ich springe förmlich aus dem Bus und ziehe meine Jacke zu. In letzter Zeit war eigentlich ziemlich warmes Wetter, aber nun kommt der April wohl etwas verspätet und es gibt häufig Gewitter über dem kleinen Dorf, in welchem ich aufgewachsen bin. Es liegt ungefähr eine halbe Stunde von der nächsten Stadt, in welcher ich zur Schule gehe und meine Mutter arbeitet, entfernt. Auch wenn es manchmal echt unpraktisch sein kann, bin ich froh auf dem Dorf aufgewachsen zu sein und immer noch hier zu leben.
Ich überquere die Straße und grüße die ältere Dame, welche jeden Nachmittag wenn ich von der Schule nach Hause komme vor ihrem Häuschen auf einer Bank sitzt. Sie lächelt mich an und hebt freundlich ihre Hand, bevor ich schon aus ihrem Sichtfeld hinter einer hohen, ungepflegten Hecke verschwinde. Am Ende der kleinen Gasse kann ich das zweistöckige Haus, in dem ich seit ich denken kann mit meiner Mutter lebe, schon erkennen. Der Garten leuchtet bereits in den verschiedensten Farben und der Kirschbaum blüht so wunderschön wie jedes Jahr. Meine Hängeschaukel wiegt leicht im Wind mit und die Vögel zwitschern von den Ästen des Baumes und den Hausdächern.
Ich krame in meiner Tasche bis ich meinen Schlüssel finde und schließe die Tür auf. Ich bin wie jeden Tag alleine Zuhause, da meine Mutter meistens bis Nachmittags arbeiten muss, damit wir beide über die Runden kommen. Meinen Vater kenne ich nicht und obwohl mich interessieren würde, wer er ist, brauche ich ihn nicht in meinem Leben. Mama erzählte mir, dass er uns kurz nach meiner Geburt verlassen hat und seitdem sind es nur wir beide gegen den Rest der Welt. Wir schlagen uns auch ganz gut durch, sodass ich mir noch nie richtig Gedanken über meine Herkunft gemacht habe.
Ich stelle meine Schuhe in den Flur und lege meine Jacke schnell über die Kommode, poltere die Treppe nach oben und werfe meine Schultasche in die Ecke neben meinen Schreibtisch. Schnell ins Bad nebenan, Klamotten wechseln und Haare zusammenbinden, dann gehe ich wieder nach unten. Auf dem Küchentisch liegt ein Zettel meiner Mutter:"Nudelauflauf ist noch im Ofen :)", steht in ihrer Schönschrift darauf und wenige Minuten später mache ich es mir mit einem Teller Nudeln vor dem Fernseher gemütlich. Wenn meine Mutter das wüsste würde sie vermutlich ausrasten, aber sie hat seit Jahren nicht die leiseste Ahnung davon, was ich tue, wenn sie nicht hier ist. Hausaufgaben, lernen und eines meiner heißgeliebten Bücher lesen, aber in Realität ist es wohl stundenlang im Internet surfen und auf dem Sofa Unmengen an Süßigkeiten verdrücken, während ich die sinnlosesten Dinge im Fernsehen gucke. Aber Mittags läuft halt selten etwas Gutes außer meine Krimis.
Nachdem ich fertig gegessen habe stelle ich meinen Teller auf den Wohnzimmertisch und checke mein Handy. Wie erwartet habe ich keine wichtigen neuen Nachrichten, nur knappe zwanzig unnötige in dem sowieso stummgeschalteten Klassenchat, welche mich allerdings daran erinnern, dass ich bis morgen noch einen Berg Hausaufgaben vor mir habe. Seufzend lege ich mein Handy weg, stelle den geleerten Teller in die Spülmaschine und begebe mich nach oben in mein Reich. Mein kleines Zimmer, in das geradeso das Bett, der Holzschreibtisch, zwei Regale mit Büchern und ein kleiner Schrank passen. Meine Mutter macht sich immer darüber lustig, dass wohl mehr Bücher als Kleidung habe, aber mir macht das ganz und gar nichts aus. Zwar achte ich schon auf mein Aussehen, aber ich würde eher alle meine Kleider als auch nur ein Buch weggeben. Mindestens genauso heilig wie meine Bücher ist mir meine Gitarre, welche gegen die Bücherregale lehnt. Ich hatte in der Grundschule Unterricht bekommen, diesen aber nach ein paar Jahren abgebrochen. Ich spiele nur noch ab und zu, aber ich erinnere mich gerne daran, wie meine Mutter zusammen mit mir gesungen hat, während ich noch ziemlich unsicher versuchte die richtigen Saiten zu treffen. Es klang meistens total schief, aber trotzdem haben mir diese viel zu seltenen Momente viel bedeutet. Inzwischen spielen wir nicht mehr zusammen, ich aus Angst etwas falsch zu spielen und meine Mutter, weil sie die Zeit einfach nicht mehr dazu findet. Ich setze mich schweren Herzens an meinen Schreibtisch und fange mit meinem Englischaufsatz an.
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Bigger Life || Michael Patrick Kelly | ✔
FanfictionJessica, Teenager und frisch gebackenes Waisenkind. Wenn es da nicht ihren Vater gäbe, welchen sie nicht kennt, aber der kurzfristig beschließt sie bei sich aufzunehmen. Sie kennt nicht einmal seinen Namen: Michael Patrick Kelly.