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Ich sitze auf dem Rücksitz. Am Steuer eine ältere Frau, neben ihr ein etwas jüngerer Mann, welche sich beide bemühten freundlich und einfühlsam zu sein, was ich besonders bei fremden Personen nicht gewöhnt bin. Mir laufen immer noch Tränen über mein Gesicht. Der Unfall, sagte man mir, war an einer Kreuzung, die ich jeden Tag passieren musste, genauso wie meine Mutter. Allerdings soll aufgrund des Gewitters der Wagen von der Gegenfahrbahn abgekommen sein. Mama konnte ihn um die Ecke herum nicht gesehen haben und wurde danach in unserem Auto einen Abhang heruntergeschleudert, mehrmals überschlagen. Nachdem die beiden vom Jugendamt eingetroffen, mir genaueres zum Unfall erzählt und ich mich anschließend nach gefühlten Stunden wieder beruhigt habe, haben wir uns auf den Weg zu mir nach Hause gemacht. Ich werde in den nächsten Tagen übergangsweise im Heim wohnen, bis langfristig geklärt wurde, wo ich hin soll. Meine Mutter hatte keine Geschwister und meine Großeltern sind bereits tot, weshalb ich zu fremden Personen muss. Das Einzige was mich vor dem unbekannten ein bisschen beruhigt, ist der Gedanke, dass die anderen Kinder im Heim teilweise das gleiche oder ähnliche Schicksale haben. Bekannte Gesichter wird es wohl keine geben, auch wenn ich nicht wirklich so etwas wie Freunde habe, würde ich alles dafür tun, auch wenn einfach Kimberly dort wäre. 

Der Wagen wird langsamer und ich sehe auf.

"Wir sind da, Jessica.", sagt die Frau sanft, aber die Straße, auch wenn sie nun mehr einem Bach gleicht, würde ich immer wieder erkennen. Ich steige mit schweren Beinen aus dem Auto und bleibe gedankenverloren stehen. Das sonst so fröhliche Zwitschern der Vögel ist verstummt, der Duft der Blumen und des Grases im Sommer ist von Regen ertränkt und auch die Äste des Kirschbaumes hängen schlapp und traurig herab. Ich wische mir über meine Augen, nehme meine Tasche und gehe durch den Garten zur Haustür. 

"Wie gesagt, nur das Nötigste einpacken. Du kommst in den nächsten Tagen sicherlich noch einmal her.", erinnert mich der Mann und ich nicke stumm, während ich den Schlüssel im Schloss der Türe herumdrehe. Ich stoße die Tür auf und seit Ewigkeiten sticht mir sofort das Bild auf der Kommode ins Auge. Mama und ich, an einem Sommertag am Baggersee im Wald hinter unserem Haus. Sie umarmt mich von hinten. Wir sind beide braun gebrannt und grinsen in die Kamera. Ich schiebe die Gedanken an diesen Tag beiseite und gehe kurz einmal durch alle Räume. Küche, Wohnzimmer - es gibt nichts, was ich aus diesen Zimmern bräuchte, dennoch lasse ich mir Zeit. In der Küche, in der wir gestern noch zu lauter Musik tanzten, liegt still vor mir und auch das Sofa ist so verlassen wie noch nie. Ich seufze und gehe hinauf in das Schlafzimmer meiner Mutter, um mir einen Koffer von ihrem Schrank herunterzuholen. Die ganze Zeit folgen mir die beiden vom Jugendamt so unauffällig wie nur möglich, dennoch gelingt es ihnen nicht mir genug Freiraum zu lassen. Vielleicht ist das aber auch gut so, denn sonst würde ich mich auf der Stelle heulend am Boden zusammen rollen. Der Duft von Mamas Parfum steigt in meine Nase und setzt sich dort fest, sodass ich schnell meine Tränen wegblinzele und den Raum verlasse. Weiter gehe ich in das Bad und erschrecke mich, als ich einen Blick in den Spiegel werfe. Meine Augen sind rot und das sonst so hell scheinende braun von meiner Mutter sieht mir matt entgegen. Meine Haare sind verstrubbelt und meine Kleidung verknittert. Schnell wende ich mich ab, suche mir Duschzeug, Zahnputzsachen und noch ein paar andere Kleinigkeiten zusammen und werfe sie achtlos in meinen Koffer. In meinem Zimmer nehme ich meine Schulsachen, Klamotten und kurz bevor ich nach meiner Gitarre greifen will, schießt mir "nur das Nötigste" durch den Kopf. Schweren Herzens lasse ich sie an meinem Regal stehen, ich würde ja wiederkommen. Trotzdem, auch wenn ich in letzter Zeit kaum gespielt habe, bedeutet sie mir viel und ich möchte sie eigentlich nicht hier stehen lasse. Ich sehe mich noch einmal nach etwas um, was ich unbedingt brauche, nehme anschließend mein Handyladekabel und Kopfhörer, welche ich gerade noch in den Koffer quetschen kann und gehe zurück zu den Personen vom Jugendamt, welche sich dazu entschlossen hatten, unten auf mich zu warten.

"Hast du alles?" Ich nicke nur und gehe mit offenen Augen weiter aus dem Haus. Ich drehe mich hinter den beiden um, sehe nochmal den Flur entlang und verabschiede mich still von dem kleinen Haus, aus welchem ich innerhalb von wenigen Sekunden nach sechzehn Jahren heraus gerissen wurde. Ich stecke den Schlüssel ei und fühle das schwere Metall in meiner Hosentasche, als ich mit gesenktem Kopf zurück zum Auto gehe und der Mann meinen Koffer in den Kofferraum heftet, während ich mich wieder in den Rücksitz sinken lasse. Still und hoffend, dass mich die Welt einfach vergessen würde und ich ewig so sitzen könnte, in der warmen, aber nassen Jacke, Musik durch meine Kopfhörer dröhnend, meinen Gedanken nachhängend. 

Aber soweit kommt es dann doch nicht. Ungefähr eine Stunde später halten wir vor einem großen Haus, etwas abgelegen von der Stadt. Es nieselt leicht, die Straßen sind nass und glänzen schwarz im fahlen Sonnenlicht, das durch die dicke Wolkendecke nur mühsam herunterscheint. Die Tür des Hauses öffnet sich und eine dickliche, aber dennoch streng erscheinende Frau, läuft auf uns zu. Ich schnalle mich ab und steige unsicher aus.

"Du musst Jessica sein!", begrüßt sie mich freundlich und streckt mir ihre Hand entgegen, welche ich zögerlich schüttle. Ich mustere sie genauer: ihre allmählich grau werdenden Haare hat sie in einem strengen Dutt hochgesteckt und die Brille auf ihrer Nase lässt sie streng, aber gleichzeitig auch weise wirken. Sie trägt eine förmliche Bluse, aber auf ihrer Jeans sind Farbflecken, genauso wie auf ihren Händen.

"Entschuldige, ich habe gerade noch mit den Kleineren gemalt." Sie streift ihre Hände an der Hose ab und ich lächle sie vorsichtig an. Danach begrüßt sie die beiden Personen vom Jugendamt und klärt etwas mit ihnen, während ich mir das Haus genauer ansehe. Die Fassade war in einem hellen gelb gestrichen und wirkte freundlich und einladend. Um das Haus führte ein Weg herum, geschottert, vermutlich zu einem Garten hinterm Haus. In den Fenstern kann ich einige kleine Gesichter erkennen, welche unsicher durch die Vorhänge blicken, um einen guten Blick auf mich zu erhaschen. 

"Wir haben hier nicht sehr oft neue Kinder. Und schon gar nicht welche in deinem Alter.", erklärt mir die Dame, welche plötzlich neben mir erschienen ist. 

"Ich bin übrigens Frau Fischer, aber du darfst mich ruhig Anja nennen." Dankend nicke ich und nehme von dem Mann meinen Koffer entgegen. 

"Dann erst mal viel Spaß und alles Gute für die Zukunft. Aber wir sehen uns in nächster Zeit bestimmt noch mal!",  verabschiedet er sich. Nachdem auch die Frau und anschließend ich mich verabschiedet habe, folge ich Anja ins Haus. 

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Bigger Life || Michael Patrick Kelly | ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt