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Nach drei Stunden und einer Phase, wo ich ausschließlich nur über Mathe verzweifelte, klappe ich meine Bücher zu und lasse mich erleichtert zurück in meinen Stuhl fallen.
Das hatte ich alles geschafft!
Mein Blick schweift zu der Uhr, welche über meinem Schreibtisch hängt. Es ist knapp vor fünf Uhr und pünktlich wie jeden Tag höre ich die Tür unter mir ins Schloss fallen.

"Jessi, ich bin Zuhause!", ruft meine Mutter nach oben.
Ich schnappe mein Handy und poltere die Treppe hinunter, um kurz darauf meine Mutter zu begrüßen. Sie steht mit dem Rücken zu mir und räumt die Einkäufe in den Kühlschrank.
Ich nehme mir ein Joghurt aus der Tüte auf dem Esstisch und reiche es ihr. Sie bedankt sich und ihre braunen Augen strahlen mich an. Sie sind das einzige, was ich von ihr geerbt habe. Meine Haare sind zwar auch braun, aber etwas heller wie ihre. Trotzdem kann ich sie sehr oft in mir wieder erkennen. Manche Gesichtsausdrücke habe ich eindeutig von ihr, sagte meine Oma jedenfalls immer. Sie ist vor drei Jahren gestorben und ich vermisse sie sehr. Auch wenn sie gegen Ende ihres Lebens viel Leiden musste, hätte es mich gefreut wenn sie ein bisschen länger bei uns geblieben wäre, aber das ist egoistisch von mir.
"Wie war die Schule?", fragt Mama mich.
"Wie immer."
"Hausaufgaben schon gemacht?", bohrt sie weiter nach, so wie jeden Tag.
Ich nicke nur, während ich mein Gesicht verziehe, was sie zum Lachen bringt. Ihr helles, lautes Lachen erfüllt das ganze Haus mit Freude und ich muss augenblicklich Lächeln. Fröhlich räumen wir den Einkauf in die mehr oder weniger dafür vorgesehenen Fächer und entscheiden uns, was wir zum Abendessen machen wollen.

Mein Handy klingelt und ich sehe kurz darauf.
"Wer ist es? Du kannst ruhig rangehen."
"Nein, passt schon. Ist nur Kimberly." Obwohl sie mich in der Schule nur ärgert oder auch ignoriert, bin ich immer noch ihre erste Anlaufstelle für Hausaufgaben. Wir waren vor einigen Jahren beste Freundinnen, aber das ist dann langsam auseinander gegangen. Da ich besser in der Schule bin als sie, schreibt sie mich immer wegen den Lösungen für die Hausaufgaben an und ich gebe immer öfter nach. Um der alten Zeiten Willen oder weil ich hoffe, dass wir uns wieder vertragen, weiß ich nicht, aber ich bin mir sicher, dass es nur Wunschdenken ist und auch wenn ich tue was sie verlangt wird sich unser Verhältnis nicht bessern.
Ich wische ihre Nachricht weg und seufze.
"Du darfst nicht immer alles machen, was andere dir sagen. Du musst sie loslassen, auch wenn ihr mal beste Freundinnen gewesen seid.", erinnert Mama mich sanft.
"Ich weiß." Ich stecke mein Handy zurück in die Hosentasche und gucke meiner Mutter weiter zu, wie sie Gemüse schneidet und in einen großen Topf fallen lässt.
"Willst du Musik anmachen?", bittet sie mich, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. Ihre lockigen Haare fallen ihr wirr ins Gesicht, als ich von der Küchendiele herunterspringe und das Radio anschalte.
Es laufen die Nachrichten, dann wird ein Sturm für morgen vorhergesagt und dann kommt endlich die Musik.
"Wir wünschen Ihnen noch einen schönen Abend und jetzt hören sie Michael Patrick Kelly mit seinem Song "iD"!", verkündet eine fröhliche Frauenstimme in unsere Küche. Meine Mutter hält kurz inne. Ich wusste, dass ihr die Musik von Michael Patrick Kelly schon immer mehr bedeutet hat als gewöhnliche Songs, aber vermutlich nur, weil sie früher ein großer Kellyfan war. Jedenfalls vermute ich das. Sie redet nicht über die alten Zeiten, aber in unseren Regalen stehen noch ein paar Alben der Kellys, fein säuberlich sortiert.
"Naaa, wie findest du den so? Ist er süß?", necke ich sie. Ich liebe es sie aufzuziehen und hatte auch nie ein Problem damit, vermutlich weil ich meine Mutter mit einem Mann nie wirklich gesehen habe. Sie hatte seit meiner Geburt keinen richtigen Freund mehr, nur ein paar Schwärmereien, von welchen sie mir allerdings immer nur sehr spät berichtet hatte.
"Wen denn?"
"Kelly.", grinse ich sie an.
"Warum sollte Ich?"
"Naja, seine Musik ist ja schon mal ganz gut. Alsooo?"
"Ach, halt die Klappe!"
Sie wird ein wenig rot und wirft ein Stück Paprika nach mir, welches ich aber geschickt auffange und mir in den Mund stecke. Ich drehe das Radio ein bisschen lauter, der Refrain von iD dröhnt durch unsere Küche. Ich fange langsam an mich im Rhythmus des Songs zu bewegen und kurze Zeit später wirbeln wir beide ausgelassen durch die Küche. Das Lied ist viel zu schnell vorbei und wir können uns vor Lachen nicht mehr halten. Unsere Tanzkünste lassen beide zu wünschen übrig und auch unsere Küche bietet nicht gerade ausreichend viel Platz. Ich lasse mich auf einen Stuhl fallen und binde meine, nun komplett zerzausten Haare, zu einem Zopf zusammen.
"Deckst du schon mal den Tisch?", bittet Mama mich und grinst mich frech an.
Genervt stehe ich auf und schleife den Stuhl hinter mir her, bevor ich ihn vor den hohen Schränken platziere. Eigentlich finde ich meine Größe von knappen ein Meter sechzig nicht schlimm, aber ich muss doch entweder auf die Küchendiele steigen oder auf einen Stuhl, um an einige unserer Schränke zu kommen. Wenn ich mich strecke kann ich sie geradeso erreichen, aber die Möglichkeit etwas fallen zu lassen ist recht hoch. Also klettere ich etwas unbeholfen auf den Stuhl, mein Gleichgewicht lässt zu wünschen übrig, und hole anschließend zwei Teller aus dem hohen Regal. 

Nachdem wir beide uns die Bäuche vollgeschlagen haben, gehe ich kurz duschen und sinke dann, entspannt und von meinem Lieblingspulli gewärmt, neben Mama auf das Sofa.
"Schon Pläne für morgen?", fragt sie mich und anstatt einer Antwort schüttele ich nur den Kopf, konzentriere mich weiter auf den Fernseher.
"Hast du Kimberly noch geantwortet?"
Wieder schüttele ich den Kopf und Mama legt seufzend einen Arm um mich, bevor ich mit unter ihre schlüpfe und mich an sie kuschele.

Bigger Life || Michael Patrick Kelly | ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt