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Die Tür sperrt das schlechte Wetter hinter uns aus und wir stehen in einem Korridor von dessen Ende sich eine Treppe in die Höhe windet. Das grelle Licht macht meinen brennenden Augen noch mehr zu schaffen, aber aus den anliegenden Räumen kann ich Kinderstimmen flüstern hören. 

"Kinder, kommt her und stellt euch Jessica vor!", fordert Anja sie auf. Vorsichtig kommen erst Zwillinge, einander geklammert, in mein Sichtfeld. Sie sind etwa im Grundschulalter. Zwei kleinere Kinder schleichen hinter ihnen her, eines davon versteckt sich hinter einem größeren Mädchen. 

"Hey, ich bin Maja.", stellt sich dieses mir sofort vor. "Ich bin zwölf und wohl die älteste hier, nach dir natürlich." Ich lächle sie an und auch die kleinen Kinder stellen sich mir vor oder besser werden mir vorgestellt. 

"Maja, führst du Jessica bitte durchs Haus und zeigst ihr dann euer Zimmer? Wir bereiten inzwischen das Abendessen vor.", verkündet Anja und nimmt meinen Koffer, um ihn schonmal in mein Zimmer zu bringen.

Die kleineren Kinder verschwinden allmählich wieder und ich stehe mit Maja alleine im Flur. Sie hat schulterlange blonde Haare und blaue Augen, das totale Klischeemädchen also. Aber sie scheint ja ganz nett zu sein.

"Also hier unten findest du die Küche, gegenüber das Wohnzimmer und ein Spielzimmer. Allerdings benutzen das nur die kleineren Kinder. Wir älteren müssen mithelfen auf sie aufzupassen oder auch mal beim kochen, kleinere Dinge im Haushalt eben.", erklärt sie mir und ich nicke höflich um ihr zu signalisieren, dass ich ihr soweit folge. Sie zeigt auf eine weitere, allerdings verschlossene Tür.

"Das ist das Büro von Anja. Sie ist die Betreuerin hier, aber das hast du ja schon bestimmt selbst mitbekommen. Eigentlich müssen wir nicht ins Büro, es sei denn das Jugendamt möchte etwas von uns oder wir haben etwas angestellt. Du solltest es einfach nicht betreten, wenn du nicht ausdrücklich darum gebeten wirst." 

Wieder nicke ich nur und sehe kurz einmal in alle Räume herein, solang die angelehnten oder gar geschlossenen Türen es zulassen. Danach folge ich Maja auf ihre Anweisung die Treppe nach oben, während sie erklärt, dass im Keller eine Waschmaschine steht und im Garten eigenes Gemüse angebaut wird. Der Flur oben sieht dem unteren sehr ähnlich, nur das auf einigen Türen bunte Buchstaben kleben. Manchmal die Namen der Kinder oder auch nur Teilwörter. 

"Dort hinten ist das Schlafzimmer von Anja und direkt hier ist das Bad. Der Rest sind die Zimmer für uns Kinder. In der Regel teilen wir uns zu zweit eines, nach dem Alter geordnet. Also bist du mit bei mir. Zur Zeit ist nur noch ein Zimmer frei und mit dir sind wir sechs Kinder, aber das weißt du ja auch schon. Und hier ist unser Reich!"

Nach ihrem Redefluss stößt sie eine Tür auf, auf ihr klebt ein großes, pinkes M. Neugierig trete ich in den Raum, mein Koffer steht bereits vor dem Bett. Das Zimmer ist in zwei gleichgroße Hälften geteilt, beide gleich eingerichtet, außer dass Majas Seite des Zimmers persönlich gestaltet ist und meine kalt und trostlos wirkt. Über meinem Bett ist ein Fenster, auf dessen Scheibe sich nun die Wettrennen von Regentropfen abzeichnen. Daneben steht ein kleiner Schreibtisch, ein Regal und anschließend ein Schrank. 

"Na dann. Richte dich mal ein und sei in einer viertel Stunde pünktlich unten in der Küche! Da gibt es nämlich Essen.", sagt Maja, klatscht wie ein kleines Kind in die Hände und lässt mich schließlich alleine. 

Ich schließe die Tür hinter ihr und lasse mich erschöpft auf mein Bett sinken. Mein Bett. Das steht in einem Dorf, in einem Haus über eine Stunde entfernt von hier. 

Innerhalb von Sekunden passieren die Erlebnisse des Tages Revue und die Welt bricht über mir zusammen. 


Mit noch brennenden und bestimmt auch roten Augen stehe ich zehn Minuten zu spät in der Küche und bekomme direkt eine Standpauke von Anja. Ich murmele eine kurze Entschuldigung und versuche mich unsichtbar zu machen. 

"Bist du denn weit mit dem auspacken gekommen?", erkundigt sich Maja, während mich die anderen Kinder aufmerksam beobachten. Ich schüttele nur kurz meinen Kopf und starre schweigend auf meinen Teller. Zuhause wäre heute normalerweise Pizzatag gewesen, wie jede Woche. Aber das war jetzt mit einem Schlag vorbei, für immer. Schnell schlucke ich die Tränen herunter, da ich nicht vor diesen fremden Kindern anfangen möchte wie ein Schlosshund zu heulen. Stumm nehme ich meine Gabel und beginne schnell zu essen, obwohl ich kaum einen Bissen herunter bekomme.


Zwei Stunden später liege ich, für meine Verhältnisse ungewöhnlich früh, im Bett und versuche die Welt um mich herum auszublenden. Ab und zu höre ich das Lachen der Kinder oder ein vergnügtes Quietschen, aber nach Freude und Spaß ist mir gerade nicht zu Mute. Ich möchte mich einfach in mein Bett verkriechen und wieder hervorkommen, wenn alles vorbei ist und sich als Alptraum herausstellt. Ich werde es Mama erzählen und wir werden darüber lachen, wie bescheuert das Ganze doch ist. Es ist draußen noch immer hell, das Gewitter hat sich langsam zurück gezogen. Ich habe beschlossen meinen Koffer erstmal nicht auszuräumen. Vielleicht ist ja alles ein großes Missverständnis und ich komme schon Morgen wieder hier raus. Auch wenn ich dankbar bin hier zu sein, möchte ich es nicht wahr haben. Es kann nicht wahr sein. 

Ich ziehe die Bettdecke enger um meine Schultern, auf dem Flur geht das Licht an, danach höre ich ein sanftes Klopfen an der sowieso nur angelehnten Tür. 

"Jessica?", steckt Anja ihren Kopf zögerlich durch die Tür. Ich richte mich auf, wische mir die Tränen von den Wangen und sehe ihr entgegen. Sie setzt sich neben mir auf das Bett und legt vorsichtig einen Arm um mich. 

"Wenn du was brauchst sag einfach Bescheid, okay? Die meisten Kinder hier haben etwas ähnliches durchgemacht wie du jetzt und auch wenn du es mir nicht glauben magst, wird es besser werden.", sagt sie zaghaft, aber ich schüttele nur den Kopf. Wie soll das jemals wieder besser werden?

"Willst du nicht mit herunter kommen und etwas fernsehen?", fordert sie mich ebenso sanft auf, aber ich schüttle wieder nur meinen Kopf. 

"Na schön, Ich muss auf die anderen aufpassen. Also komm einfach wenn du dich bereit fühlst." Sie verlässt das Zimmer und zieht die Tür leise hinter sich zu.

Ich nehme mein Handy vom Nachttisch und sehe darauf. Keine neuen Nachrichten. Ich öffne WhatsApp, die Diskussion über mein plötzliches Verschwinden und ignoriere sie. Ich habe gerade keinen Bock mich mit Idioten, mit denen ich nichts gemeinsam habe außer in die selbe Klasse zu gehen herumzuschlagen. Ich schließe den Chat und öffne den nächsten. 

Mama. Zuletzt online um halb acht, kurz bevor sie sich auf den Weg zur Arbeit machte. Mein Blick fällt auf den Hörer in der Ecke. Soll ich? 

Ohne weiter zu überlegen drücke ich auf das Symbol und ich werde zu einem Anruf weitergeleitet. 

Das erste Piepen, niemand nimmt ab. 

Das zweite, keine Stimme am anderen Ende. 

"Mama?", flüstere ich in die Stille. 

Drittes Piepen, keine Antwort.

"Bitte...", flehe ich, den Tränen wieder nahe. 

Viertes Piepen, endlose Stille. 

Fünftes Piepen, Mailbox. 

Ich lege frustriert auf und breche kurz darauf in Schluchzen aus, vergrabe mein Gesicht so tief wie möglich im, schon durchnässten, Kopfkissen. 


Als ich mich wieder halbwegs beruhigt habe, fische ich meine Kopfhörer aus meiner Tasche, welche noch immer neben dem Bett steht, und stöpsele sie in mein Handy und meine Ohren. 

Danach drücke ich bei meiner Playlist auf Shuffle.

Michael Patrick Kelly - iD.

Na toll. Here we go again!

Bigger Life || Michael Patrick Kelly | ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt