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Ich bemerke verschlafen, wie Maja aufsteht und sich für die Schule fertig macht, bevor sie das Zimmer verlässt. Sie versucht deutlich, mich wenn möglich nicht zu wecken, aber ich habe sowieso kaum geschlafen. Stattdessen habe ich mich hauptsächlich herumgewälzt, noch ein bisschen geweint und verzweifelt versucht meine Gedanken von meiner Mutter abzuwenden. Als Majas Wecker klingelte, hab ich meine Augen zugekniffen und mich schlafend gestellt, um unangenehmen Fragen zu entkommen.

Ich muss bis zum Ende der Woche nicht in die Schule, wenn ich nicht möchte und ich möchte nicht. Ich fühle mich noch nicht dazu in der Lage, also werde ich mich in mein Bett verkriechen und das Ende des Tages abwarten. Und irgendwann schaffe ich es dann tatsächlich noch, wenn auch vor Erschöpfung, einzuschlafen.


"Jessica.", werde ich von Anjas sanfter Stimme geweckt, während sie mich an der Schulter wach rüttelt.

"Aufwachen! Es ist schon fast elf und du hast immer noch nichts gegessen." Ich reibe mir meine Augen, entscheide mich dann aber doch mich einfach umzudrehen und zu versuchen weiter zu schlafen. 

"Jessica.", fordert sie mich erneut auf, aber ich brumme nur.

"Das Jugendamt kommt in eineinhalb Stunden."

"Was können die schon von mir wollen?", murmele ich in die Decke.

"Es klang ziemlich wichtig." 

Ich schüttele meinen Kopf und vergrabe ihn tiefer in im Kopfkissen. Anja legt eine Hand auf meine Schulter und verharrt einen Moment in dieser Position, bevor sie mit einem Seufzen von meinem Bett aufsteht.

"Ich weiß dir geht es nicht so gut, also lass dir Zeit, aber bitte komm in spätestens einer Stunde nach unten, okay?"

Ich lasse die Frage unbeantwortet und sie verlässt das Zimmer. Nach einigen Minuten schaffe ich es dann doch mich aus der warmen Bettdecke zu befreien und ziehe mich um. Ich habe immer noch die Jeans und das Shirt von gestern an, nun zerknittert und bestimmt nicht mehr so frisch. Ich gehe in das leere Bad, springe unter die Dusche und putze meine Zähne. Mit frischen Klamotten gehe ich, immer noch verschlafen, herunter. Anja hat mich wohl bereits kommen gehört, denn sie wartet am unteren Treppenabsatz.

"Na endlich. Ich dachte schon du kommst tatsächlich gar nicht mehr und verbringst den ganzen Tag in deinem Bett."

"Würde ich auch am liebsten.", antworte ich leise und sehe zu Boden. 

"Geh doch schon mal in die Küche und mach dir was zu essen. In einer Stunde kommt das Jugendamt, ich glaube es sind sogar die selben Beamten wie gestern. Die kennst du ja schon." Sie lächelt mich an und ich erwidere das Lächeln schüchtern und mit einem Nicken. 

Ich gehe in die Küche, während Anja sich in ihr Büro zurück zieht. Ich mache mir ein Brot, esse schnell und sehe mir dann das untere Stockwerk genauer an. In der Küche steht ein langer Tisch, daneben ein meterhoher Kühlschrank und Regale, alles mit Holzvertäfelung. Ich gehe auf den Korridor zurück. Bilder säumen die Wände, manche Gruppenbilder, manchmal zufällige Aufnahmen. Die meisten Kinder kenne ich nicht, aber manchmal meine ich ein mir bekanntes, jedoch um einiges jüngeres Gesicht zu sehen. Kinderschuhe stehen ungeordnet an den Seiten des Flures, neben dem großem Schrank, in dem nun auch meine Jacke hängt. Ich gehe durch eine angelehnte Türe und finde mich im Spielzimmer wieder. Unzählige Spielsachen liegen willkürlich am Boden oder sind in die Regale gestopft. Ich hebe ein Springseil auf und hänge es zu den anderen über einen Stuhl, neben den kleinen, kindergerechten Tischen. Ich packe das darauf liegende Brettspiel zusammen und schiebe die Box zu den anderen ins Regal.

Nachdem es in dem Zimmer nun schon viel besser aussieht und ich meine Gedanke nicht verfolgen konnte, fühle ich mich nun etwas besser und lege mich im großen Wohnzimmer auf  das einladende Sofa und warte bis es schließlich klingelt und Stimmen im Flur ertönen. 

"Jessica? Kommst du mal bitte!", fordert mich Anja auf, welche plötzlich im Türrahmen steht. Ich stehe auf und folge ihr auf den Flur. Ich begrüße kurz die beiden Beamten des Jugendamtes, die ich vom Vortag schon kenne, bevor uns Anja in ihr Büro bittet. 

Durch das Fenster fällt helles Sonnenlicht in den Raum und lässt ihn mit den weiß gestrichenen Wänden offener wirken. In der Mitte steht ein großer Schreibtisch, Stapel von Papier lagern darauf, und zwei Stühle stehen davor. 

"Nimm dir doch den Stuhl dort, der an dem Regal steht.", bittet mich meine Betreuerin und ich gehorche sofort. Sie setzt sich hinter den Schreibtisch, ich bleibe auf der gegenüberliegenden Seite. Nachdem ich mir den Stuhl näher herangezogen habe, beginnt die Dame vom Jugendamt auch schon zu reden, ihr Kollege hört zunächst schweigend und nickend zu, seinen Blick auf den Boden gerichtet. 

"Also Jessica, ich will gleich zur Sache kommen. Es gibt gute Nachrichten für dich!"

Gute Nachrichten? Solang nicht ein Mittel zur Wiedererweckung von Toten entwickelt wurde wird es keine guten Nachrichten geben. Ich sehe sie mit ausdruckslosem Blick an, als sie fortfährt. 

"Nachdem deine Mutter ja nun tot ist-"

 -Danke fürs erwähnen. Das habe ich ja noch gar nicht mitbekommen- 

"haben wir uns über deine nächsten lebenden Verwandten informiert."

Ich sehe zu Boden. Das Ergebnis zu dieser Suche ist mir schon seit Jahren bekannt. Alle tot. 

"Und tatsächlich haben wir jemanden gefunden, der sich, wenn auch ziemlich kurzfristig, dazu erklärt hat, dich aufzunehmen.", verkündet sie mir fröhlich und Anja lächelt mir glücklich und aufmunternd zu.

Ich allerdings setze mich augenblicklich kerzengerade hin, meine Muskeln spannen sich unbewusst an.

"Nein... dass kann nicht sein. Jeder aus meiner Familie ist bereits tot.", flüstere ich beinahe mit krächzender Stimme und muss erst mal den Kloß in meinem Hals herunterschlucken.

"Wir wissen, dass es bestimmt schwer wird, weil du ihn erst kennenlernen musst, aber trotzdem gleich bei ihm wohnen musst. Aber das kriegst du schon hin und oft erweist sich ein sicheres Zuhause nach so einem Schicksalsschlag wie deinem oft als eine bessere Unterkunft als ein Waisenhaus."

Ich schüttele nur den Kopf. Ich möchte nicht zu einer fremden Person. Außerdem gibt es keinen, der mich kennt, der mich freiwillig aufnehmen würde.

"Jessica." Der Mann wendet sich nun zu mir, der die Augen Tränen. Ich weiß selbst nicht warum, aber mir wird gerade einfach alles zu viel.

"Jessica, es ist dein Vater. Du wirst bei ihm wohnen müssen, da du keine weiteren lebenden Verwandten hast und wenn du nicht volljährig bist, darfst du leider nicht viel mitentscheiden. "

Mein Vater? Der wollte doch jahrelang nichts von mir wissen und nun soll ich bei ihm wohnen? Ich kneife meine Lippen aufeinander. Eine andere Wahl habe ich nicht und es wird vermutlich tatsächlich besser sein, als hier im Heim zu bleiben. Außerdem werde ich ihn kennenlernen und seine Seite der Geschichte. Er kann mir bestimmt viel von Mama erzählen, aber auch, warum er gegangen ist. Er ist gegangen, als ich einige Monate alt war. Warum sollte er mich jetzt wollen?

"Wer ist er?", frage ich mit brechender Stimme, ein Tränenschleier vor meinen Augen. Die Beamtin antwortet mir jedoch ruhig und sanft.

"Michael Patrick Kelly."

Bigger Life || Michael Patrick Kelly | ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt