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Ich folge den Beamten vom Jugendamt zu ihrem Wagen, nachdem ich mich ausgiebig von Anja verabschiedet habe und sie mich umarmt hat, während sie mir versicherte, dass sie mich vermissen wird. Ich kenne sie gerade mal seit vorgestern, aber irgendwie ist auch sie mir ein wenig ans Herz gewachsen.

Ich habe den Beamten bereits meine Schulbücher übergeben, da ich die in Bayern sowieso nicht gebrauchen kann und dafür ein Zugticket erhalten. Ich muss immer wieder danach in meiner Tasche tasten, nach meinem Ticket in ein neues, zwar ehr ungewolltes Leben, aber hierbleiben ergibt auch keinen Sinn.

Ich setze mich in den Rücksitz und verbringe die Fahrt schweigend, sehe aus dem Fenster, bis an mir nur noch bekannte Gebäude und Landschaften vorbei schweben und wir endlich bei mir Zuhause angekommen sind. 

Ich habe meinen Koffer mit dem Nötigsten schon im Kofferraum des Wagens liegen und soll auf Anweisung des Jugendamts noch maximal einen kleinen Koffer und einen Rucksack mitnehmen. 

Ich schließe die Tür auf. Alle seiht noch genauso aus, wie als ich das letzte Mal hier war und auch als ich das Haus vor zwei Tagen frühs nichtsahnend verlassen hatte. Augenblicklich setzt ein Schmerz in einer Brust ein, den ich vergeblich versuche zu unterdrücken. Bloß nicht anfangen zu heulen. Mama hätte das nicht gewollt! Ich wiederhole diese Worte wieder und wieder in meinem Kopf und nach einmal tief durchatmen gehe ich anschließend in mein Zimmer. Ich durchsuche das Bad nach sinnvollem, packe mehr Klamotten ein. Ein Buch für die lange Fahrt nach Bayern und ein paar, mir erhalten gebliebene, Schulsachen. 

Ich sehe mich um in meinem Zimmer und gehe entschlossen auf die Gitarre zu. Das braune Holz, die filigranen Seiten und der leise Wiederhall eines Tones, als ich den Korpus über mein Knie lege. Ich sitze auf meinem Bett und nach einigen Minuten überlegen, spiele ich ein paar Akkorde. Als ich mich an die Beamten, welche draußen im Auto auf mich warten, erinnere verstumme ich und lege die Gitarre neben meinen Taschen an meine Zimmertür. Die Ist sowieso total verstimmt!

Ich packe noch ein paar Klamotten ein, als es hinter mir klopft und der Beamte vom Jugendamt im Türrahmen steht.

"Bist du fertig? Wir müssen langsam los zum Bahnhof. Du willst den Zug ja nicht verpassen."

Ich schließe den Koffer und deute auf mein Bett.

"Ja, ich habe alles. Wir können glaube ich los."

"Wenn du etwas vergisst kannst du ja jederzeit wiederkommen." Er wirft einen argwöhnischen Blick, auf meine Ansammlung von Gepäck.

"Allerdings würde ich die Gitarre hier lassen. Das wird sonst zu viel für eine Zugfahrt."

"Oh.", erwidere ich nur und betrachte den Stapel von Taschen und Koffern. Vielleicht sollte ich sie wirklich hier lassen, da sie ziemlich unpraktisch ist zum mitnehmen. Außerdem kann ich sie bestimmt nächste Woche mitnehmen, solange ich genug Zeit habe und die Erlaubnis bekomme. 

Ich lehne sie schweren Herzens wieder an ihren ursprünglichen Platz an das Regal und sehe mich noch einmal um. 

"Ich bin fertig. Wir können gehen.", wende ich mich schließlich an den Mann und danke ihm, als er mir einen Teil des Gepäcks abnimmt und mit hinunter zum Auto trägt. Ich sehe mich nochmal kurz im Erdgeschoss um, ob ich denn ja nichts vergessen habe und gehe anschließend in den Flur, als mein Blick auf dem Bild von Mama und mir, an dem Sommertag, ins Auge fällt. Meine Fingerkuppen streifen über den hölzernen Rahmen und ich entschließe mich, dass Bild mitzunehmen, um wenigstens eine Erinnerung an meine Mutter zu behalten. Schnell lasse ich das Bild in der Tasche verschwinden und folge dem Beamten nach draußen. Als ich am Ende des kleinen Wegs durch unseren Vorgarten stehe, drehe ich mich nochmal um und verabschiede mich von dem Ort, an dem ich bis jetzt mein ganzes Leben verbracht habe und viele Erinnerungen damit verknüpfe. Tschüss Haus, Tschüss Garten, Auf Wiedersehen Kindheit!


Die Landschaft zischt an mir, sie hat sich innerhalb der letzten Stunden gewandelt. Wälder wurden zu großen Wiesen und Felder wurden zu Städten, in denen unzählige Personen den Zug betraten oder verließen. Die meisten bleiben nur ein paar Stationen, ein paar wenige begleiteten mich bereits meine ganze Reise. 

Nachdem ich meinen Hunger stille, schreibe ich eine Nachricht an Angi und frage sie über die Beerdigung meiner Mutter aus. Einen vorwurfsvollen Ton konnte ich mir dabei nicht verkneifen, aber sie hat es irgendwie verdient. Auch wenn sie trauert hat sie mich völlig vergessen, die einzige Person, der Mama noch mehr bedeutet als ihr. Meine zwei Koffer und den Rucksack konnte ich gut zu meinen Füßen und über mir verstauen. Es war bereits später Nachmittag, meine Musik dröhnt durch die Kopfhörer in meine Ohren und die Durchsage für meine Haltestelle bekomme ich glücklicher Weise geradeso mit. Meine Nervosität ist innerhalb der letzten Stunden rapide gestiegen und mein Kopf schwirrt vor Fragen aller Art. 

Wie wird er wohl sein? Was wenn er dich nicht mag? Wie wird es in der neuen Schule? Werde ich dort endlich Freunde finden? Wie lebt mein Vater so und wie ist er privat? Ist er wirklich so wie in den ganzen Interviews? 

Ich stehe auf, meine Beine steif von der langen Fahrt, und versuche nicht bei der nächsten Kurve umzufallen. Ich hieve den Koffer aus dem Gepäckfach über mir, vorsichtig, damit er mich nicht erschlägt. Nachdem ich meinen Rucksack genommen habe, bin ich zum ersten Mal froh die Gitarre nicht mitgenommen zu haben. Sie hätte die Reise nur umständlicher gemacht und außerdem weiß mein Vater dann nichts von meiner, mehr oder weniger, musikalischen Seite. Vielleicht ist es gut ihn erstmal etwas kennenzulernen, ohne dass die Musik direkt eine Brücke zwischen uns beiden herstellt. Ich kann sie ja in nicht mal einer halben Woche von Zuhause mitnehmen. 

Ich bugsiere meine zwei Koffer ungelenk vor mir durch den schmalen Gang und versuche so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen. Zu meinem Glück achtet gerade niemand auf mich, da im hinteren Teil des Abteils ein Kleinkind wie verrückt anfängt zu brüllen und somit jegliche Aufmerksamkeit der Passagiere auf sich zieht. 

Ich habe es heil an die Tür geschafft, wo schon eine junge Frau darauf wartet den Zug verlassen zu können, welcher gerade in den Bahnhof einrollt und immer langsamer wird, bis er schließlich ganz hält. Die Tür öffnet sich und nachdem ich die ungeduldige Frau vorgelassen habe, betrete auch ich schließlich den Bahnsteig.

Bigger Life || Michael Patrick Kelly | ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt