Kapitel 66

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Heute herrschte ein chaotischer Wirbel hier in der Klinik, denn die Polizei hat Amanda gefunden. Mehr wollten die Schwestern uns nicht sagen, und das ertrug ich kaum. Ich war kurz davor einer der Schwestern wachzurütteln, damit sie endlich sagten, was Sache war, denn alle wirkten neben der Spur.
Es interessierte viele.
Beziehungsweise alle Klienten in dieser Einrichtung, selbst die, die nie etwas mit ihr zu tun hatten.
Ich ging schnell zu Sabrinas Büro, aber dort betätigte sie nur Telefonat nach Telefonat. Sie signalisierte mir, dass sie keine Zeit hat, in dem sie kopfschüttelnd auf die Uhr an ihrem Handgelenk zeigte.
Aber ich würde warten, auch wenn ich morgen noch hier stände.

Nach zwei Stunden ging die Tür auf und Sabrina ließ mich rein.
"Ich habe verordnet, dass keinem gesagt wird, was mit Amanda los ist, bis wir uns komplett sicher sind". Sabrina sah schlecht aus. Sie war blass und die Farbe ist ihr vom Gesicht entwischen.
"Also ist was passiert...? Etwas schlechtes."
"Ja. Elena setz dich lieber hin." Ich schluckte schwer und setzte mich auf den Platz vor ihr. Sie kam genau vor mir, beugte sich zu mir runter und streichelte meinen Arm während sie besorgt zu mir aufschaute.
"Amanda war bei Freunden untergebracht, es war eine WG. Die meisten gingen auf Unis und lernten den ganzen Tag, und sie konnte unbeschwert abnehmen. Die Polizei sagte, dass die Leute, die sie aufgenommen haben, nicht wussten, dass sie hier ist, sondern sie sei angeblich von ihren Pflegeeltern abgehauen und würde in ein paar Tagen wieder zurück gehen." Dann nahm Sabrina tief Luft. "Heute haben sie Amanda auf den Boden liegen sehen. Sie atmete nicht mehr. Und die Ärzte gehen davon aus... dass sie verhungert ist und dass sie zu viele Mangelerscheinungen hatte, die man nicht hätte beheben können."

"Oh mein Gott." Sagte ich noch bevor ich in Tränen ausbrach. Das konnte doch nicht wahr sein. Das konnte nicht wahr sein. Amanda ist gestorben.

"Gib die Hoffnung nicht auf, Elena, wir haben gute Ärzte."

Ich nickte obwohl ich weiterhin immer noch tief schluchzte und weinte.
"Du musst das für dich behandeln. Wir sagen den anderen etwas nur, wenn es feststeht. Sonst entstehen wilde Gerüchte und Beschuldigungen."

Dann ließ sie mich in Ruhe weinen, während sie diesbezüglich Papierkram erledigte.

Nach dem ich stundenlang geweint hatte, war ich auch neben der Spur und ließ alles um mich herum geschehen. Im Foyer wurden alle gesammelt und Sabrina teilte die Hiob Botschaft mit, worauf viele geschockt waren und ein paar auch weinten. Ich hatte meinen Tränen Speicher schon längst aufgebraucht und beobachtete nur das Geschehen wie gelähmt.

Sie ist gestorben.

Wie konnte sie sterben, weil sie zu wenig wog...?

Mir entlief ein kalter Schauder über den Rücken.

Ich sah die ganze Zeit nur ihr Lächeln in meinem Kopf. Wie sie einem zugehört hat. Wie sie geguckt hat, wenn sie nachgedacht hat. Wie sie sich mit einem unterhalten hat. Wie sie sich ständig nach den Schwestern umgedreht hat, damit sie ihr Essen wegschmeißen konnte. Wie sie über ihren Ex erzählte. Wie sie einfach da war.

Und auch wenn ich versuchte an was anderes zu denken, kam ich immer wieder zu ihr zurück, als sei ihr Geist tief in meinem Kopf getrichtert worden.

"Das ist alles deine Schuld!" Ines stand vor mir, vollkommen gerötet und schrie mich an.

"Was?", fragte ich sie nur verwirrt.

"SIE IST DEINETWEGEN GESTORBEN! IHR SEID DOCH ZUSAMMEN ABGEHAUEN!"

"Du tust zu als hätte ich sie getötet! Ich bin genau so traurig wie du!" Ich stand nun genau vor ihr.

"Du kanntest Amanda doch kaum! Wir waren ihre wichtigsten Freunde!"

"Sie war mir auch wichtig!"

"Du Lügnerin!", erwiderte Ines und gleich daraufhin spürte ich, wie ihre Handfläche auf meiner Wange klatschte.
Sie hatte mich einfach geohrfeigt...!

Ich schubste sie von mir weg, aber dann kamen auch schon Schwestern angelaufen.

"Sie hat mich provoziert!", sagte Ines.

"Und Ines hat-"

"Elena sei still!", zischte einer der Schwestern. "Du bist überhaupt nicht in der Stellung irgendwas zu sagen!"

Ich war tief geschockt. Was zum...?! Das war ganz klar eine ungerechte Behandlung.

"Du bist des Todes an Amanda mitverantwortlich.", sagte die andere Schwester.
Dieser Satz traf mich wie eine zweite Ohrfeige.
War das ihr ernst?
War das jetzt ihr vollkommener Ernst?!

Als sie Ines von mir wegzogen, und sich dann liebevoll um sie kümmerten, verlor ich den Halt unter meinen Füßen und fiel zu Boden. Es waren heiße Tränen, die von meiner Wange bis zum Boden tropften und ich heulte erneut meine ganze Frustration und Trauer aus.

Es war kalt und frisch, und ich zog meine schwarze Jacke enger um mich. Ich blieb noch etwas draußen, weil ich mich noch nicht reintraute. Meine Haare wehten im Wind und jede einzelne Sekunde hatte ich nur Amanda im Kopf. Heute war nämlich ihre Beerdigung.
Es war eine traurige und bedrückte Stimmung und es waren nicht so viele Leute da. Uns war es freigestellt, ob wir gehen wollten oder nicht. Die Schwestern waren eigentlich der Meinung, dass ich nicht dabei sein durfte, doch ich war Sabrina dankbar, dass sie sich für mich eingesetzt hat.
Ich wollte mich schließlich von Amanda verabschieden.
Und ich wollte Amanda mit einer Rede gedenken. Ich ging dann rein und setzte mich neben Sabrina, die mir ein bekräftigendes Lächeln schenkte. Nach dem sie ihre rührende und liebevolle Rede gehalten hat, war nun ich dran.

"Liebe Angehörige und... Amanda.", sagte ich und atmete tief ein. Jetzt durfte ich nicht weinen.
"Du warst meine Freundin in der Klinik. Richtig kennengelernt haben wir uns erst, als wir... gegangen sind. Mittlerweile weiß ich, dass es ein Fehler war, aber der Tod kommt nunmal dann wenn man es nicht erwartet. Du sagtest mir, dass du deine Mutter besuchen möchtest, nun bist du bei ihr. Und jetzt habe ich erst verstanden w-was du damit meintest." Ich wischte mir die Tränen weg, atmete tief und redete weiter. "Ich weiß ganz genau, dass es dir gut geht, wo immer du auch bist. Und dank dir haben viele Mädchen wie ich gemerkt, dass diese Krankheit tödlich enden kann. Ich weiß noch, was deine letzten Worte waren: Ich finde du solltest zunehmen und dein Leben leben. Das wollte ich dir schon immer sagen. Es ist nicht wert die ganze Zeit abzunehmen, zu kotzen, Kalorien zu zählen. Verbring nicht die ganze Jugend in dieser Klinik, wie ich es getan hab. Früher warst du diejenige gewesen, die mir gesagt hat wie man in der Klinik heimlich abnimmt und dass die Schwestern und Therapeuten mich nicht vom Abnehmen abhalten sollten. Und jetzt, wo du wusstest, dass dies unsere letzte Begegnung war, hast du mir genau das Gegenteil gesagt. Deswegen nehme ich das zu Herzen, Amanda. Ich werde zunehmen, und mit dem Thema Magersucht abschließen. Und während ich das mache, werde ich jede Sekunde an dich denken."

Dann erfolgte heftiger Applaus und Sabrina lächelte mich bekräftigend an. "Das war eine sehr rührende Rede, Elena, toll gemacht."

"Danke."

Dann ging es zum Friedhof.
Es wurde dafür gesorgt, dass Amanda neben ihrer Mutter begraben wird. Und hier standen wir vor dem Grab.
Ich konnte es immer noch nicht fassen...?
Erneut nahm ich rasselnd Luft, aber ich wollte nicht wieder anfangen zu weinen.

Ich war ihr mein Leben dankbar.
Ich hätte auch so enden können.
Und es ärgerte mich, dass ich zwei wertvolle Jahre an einer Krankheit verschwendet habe, wenn es doch viel wichtigeres gab als Abnehmen und auf das Gewicht zu achten.

Man musste nicht so aussehen wie ein Model, man musste auch nicht wie Kim Kardashian aussehen und einem Ideal entsprechen.
Man musste einfach sich selbst sein und sein Lieben da genießen, wo es auch nur geht, denn, wie ich gerade vor mir sah, es könnte schon nach 17 Jahren vorbei sein.

Federleicht Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt