Der Alptraum beginnt

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Der Unterricht verlief normal. Nichts spektakuläres. Bis zu unserer Freistunde. Eine "Freundin" von meiner Schwester kam auf mich zu. "Rose" ein leichtes lächeln umspielte ihre vollen Lippen. Ich erwiderte das Lächeln leicht. "Wie geht es dir denn? Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen" fing sie an zu fragen und sah dabei auf ihre perfekt lackierten pinken Nägel. "Ja, es geht schon." Eigentlich wollte ich nicht mit ihr reden, da sie weder auf der Beerdigung meiner Schwester noch eine wahre Freundin war.

Kira erzählte mir, das Maja jetzt mit dem Crush meiner Schwester zusammen ist. Ally und Jonah waren unzertrennlich seit dem Kindergarten. Nichts konnte sie trennen. Naja fast nichts. Sie waren beide ineinander verliebt gewesen, das hat man einfach gesehen, nur die beiden nicht. Erst als es zu spät war. Kurz bevor der Unfall passiert war, erzählte mir meine Schwester das sie und Jonah sich geküsst hatten. Sie war so glücklich. Ihre Augen strahlten wie zwei Diamanten. Sie waren auch seit ein paar Tagen zusammen, aber außer mir wusste es niemand. Ich habe mich so sehr für die beiden gefreut. Aber nicht mal drei Wochen ist Ally nicht mehr unter uns, haben die beiden sie ersetzt. Sowas nennt man also dann Freunde.

Ich kann es mir nicht erklären wie man einen Menschen den man gern hat, so schnell ersetzen kann. Mir fällt es ja schon schwer jemanden zu finden den ich auch nur einen Hauch sympathisch finde. Corbyn ist einer der wenigen der einen gewissen Charme ausstrahlt. Bei ihm kann ich nicht anders als zu Lächeln, auch wenn es nur innerlich ist.

"Rose?" Maja legte ihre Hand auf meine. "Was hast du gesagt? Sorry, ich war gerade in Gedanken" nuschelte ich. "Du kannst auch nicht zuhören, genau wie Ally. Solange es sich nicht um sie drehte, waren ihr alle anderen egal. Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm" Ich merkte wie sich die Wut in mir aufstaute. "Wenn man euch dann damit konfrontiert, bekommt ihr euren Mund nicht auf, weil ihr einfach keine Eier habt. Unglaublich." Sie hörte einfach nicht auf, mittlerweile wurden wir schon regelrecht angestarrt. Alle Blicke lagen auf mir, abwartend, was ich als nächstes tun werde. "Die einzige die hier keine Eier hat bist ja wohl du. Mit dem Freund deiner sogenannten Freundin ins Bett springen nachdem sie gestorben ist. Das ist unglaublich. Was bist du eigentlich für eine Freundin? Kaum ist Ally nicht mehr da, musst du dich an Jonah ranmachen, weil du, wenn sie noch da wäre, eh keine Chance bei ihm hättest. Du bist nicht mal bei der Beerdigung aufgetaucht. Als "Freundin" tut man das eigentlich und trauert. Aber du, du bist wahrscheinlich noch froh, dass sie Tod ist, da du jetzt keine Konkurrenz mehr hast und jetzt einfach alles in den Arsch geschoben bekommst. Sowas abartiges hab ich noch nie zuvor erlebt." Ich konnte mich kaum noch halten vor Wut. Dieses Weib machte mich so aggressiv, das könnt ihr gar nicht glauben. "Wer hat dir denn diesen Mist eingeredet? Du bildest dir Sachen ein, die sich so nie abgespielt haben. Du bist einfach nur krank im Kopf und solltest dir dringend mal Hilfe suchen. Oder du wärst einfach bei deiner Schwester mitgefahren. Das hätte uns allen auch schon geholfen. Dann müssten wir uns dein erbärmliches Gesicht nicht noch weiter anschauen und zusehen wie du in Selbstmitleid versinkst, weil du keine Aufmerksamkeit von niemanden bekommst." Das waren ihre letzten Worte bevor sie sich wieder auf Ihren Platz setzte und triumphierend lächelte. War das eben wirklich passiert? Wurde mir gerade allen ernstes erzählt, es wäre besser gewesen, wenn ich gestorben wäre? Was ist nur los mit der Menschheit? Jemandem den Tod zu wünschen ist nicht lustig. In keiner Hinsicht. Und sowas macht einfach auch nicht. Außer man ist wie Maja.

Jeder sah mich an, manche mitleidig, manche mussten sich ein Lachen verkneifen.
Ich ballte meine Hände unterm Tisch so fest zusammen, dass sich meine Fingernägel in meine Haut bohrten. Tränen stiegen in meine Augen. Unfähig mich zu bewegen oder etwas zu sagen. Ich war wie in Trance, bekam irgendwie alles mit und dennoch nichts.

Meine Starre wurde durch die Stundenglocke unterbrochen und ich atmete ein paar mal ein und aus, um nicht weinen zu müssen. Maja sollte nicht merken, dass sie einen wunden Punkt gefunden hatte. Meine Schwester.
"Alles gut Rose?" fragte mich Kira besorgt. „Alles gut" bestätigte ich ihr und nahm mir ein Taschentuch aus meinem Rucksack, um das Blut weg zu wischen.

„Du hast da was verloren" machte mich Corbyn aufmerksam. Am Boden lag die Kette, die mir meine Schwester gegeben hatte. Sie war silber und hatte einen wunderschönen Anhänger in der Form einer kleinen Rose. Ein leichtes Lächeln zierte mein Gesicht an die Erinnerung. „Soll ich sie dir ummachen?" fragte Corbyn vorsichtig. Ich nickte und legte ihm die Kette in seine Hand. Er kam zu mir und stellte sich hinter mich um mir die Kette anzulegen. Seine Hände waren erstaunlich weich und schön warm. Jede einzelne Berührung von ihm war so vorsichtig, als wolle er nicht, dass er mich verletzt. Da wo seine Hände meine Haut berührten, hinterließ er eine Gänsehaut. „Danke" sagte ich leise zu ihm, er lächelte mich leicht an und setzte sich dann wieder auf seinen Platz hinter mir. „Wenn ich noch irgendetwas für dich tun kann, lass es mich wissen" hörte ich ihn hinter mir sagen. Ich drehte mich zu ihm nach hinten und versicherte ihm, dass ich das aufjedenfall machen würde. Was ich aber eigentlich nicht vor hatte.

Das ist das Letzte was ich will, ist jemandem zur Last zu fallen. Mir war es schon unangenehm, dass mir Kira jeden Tag die Schulsachen aufgehoben und sogar noch mitgeschrieben hatte, nur um mir Arbeit abzunehmen. Ich fühl mich dann immer schlecht. Die Menschen haben doch selbst ihre eigenen Probleme und müssen sich dann nicht noch mit meinen auseinandersetzen.

Es sind ja schließlich meine Probleme, die ich bewältigen muss und nicht jemand anders übernehmen kann. Das geht einfach nicht. Wie schön wäre das: du hast Probleme und jemand anders kann sie für dich lösen. Aber das geht nicht so leicht. Immerhin wären es ja dann nicht meine Probleme, sondern seine. „Rose?" rief mich mein Lehrer auf. „Hmn? Tut mir leid. Ich war in Gedanken bei etwas anderem" sagte ich schüchtern und vermied den Blickkontakt mit dem Lehrer. Mir war sowas immer sehr unangenehm. Ich hasse es im Mittelpunkt zu stehen. Leise hörte ich jemanden sagen „sie träumt bestimmt von einem Freund, den sie nie haben wird."
Warum tun Menschen einem sowas eigentlich an, ohne denjenigen richtig zu kennen? „Hör nicht auf diese Idioten." vernahm ich die Stimme von Corbyn und nickte nur leicht, ohne mich umzudrehen.

Keep me alive.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt