Kapitel 34

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Die letzten fünf Tage vor dem Abschlussball stellten sich als reinstes Bad der Gefühle heraus. Überall an unserer High School waren die verschiedensten emotionalen Stadien zu finden:

Von einer nerventechnisch vollkommen fertigen Mary Hutson, die immer noch kein Kleid gefunden hatte, über eine seelenruhige Lia,  die den ganzen Tag ein ziemlich verliebtes Lächeln auf den Lippen trug, bis hin zu einem David Johnson, der in jeder Physikstunde apathisch an die Decke starrte und dessen Augen einen gewissen Hauch von Panik  trugen.

Und wenn ich ehrlich sein sollte, dann identifizierte ich mich von allen am meisten mit David Johnson, denn die Angst, die sich  mit jedem Tag mehr in meinem Innersten anstaute, nahm langsam aber sicher Überhand.

Für diesen Zustand gab es in meinem Fall jedoch eine  plausible und einleuchtende Erklärung: Ich konnte zur Hölle nochmal nicht tanzen.

Damit meinte ich nicht das wirre Herumspringen auf der  Tanzfläche in irgendeinem Club und auch nicht das elegante Bänderturnen im Sportunterricht bei Coach Morgan, sondern knallharte Gesellschaftstänze. Wiener Walzer, Langsamer  Walzer, Foxtrott, Tango – oder wie die ganzen verrückten, europäischen Tänze alle hießen. Allein die Namen ließen mir einen eiskalten Schauer den Rücken herunterlaufen.

Lia redete mir seit mehr als einer Woche ein, dass ich mir mein fehlendes Talent nur einbildete, aber der Blick, den sie in den wenigen Übungsstunden, die sie mit mir zusammen als Vorbereitung auf den Ball  abgehalten hatte, getragen hatte, verriet, dass sie ihren Worten selbst keinen Glauben mehr schenkte.

Ich verstand schlicht und einfach den Sinn  hinter dieser Tradition nicht. Warum musste man unbedingt auf einem Abschlussball tanzen?

Man könnte doch stattdessen einfach ein paar  lustige Partyspiele spielen oder den ganzen Abend leckere Dinge in sich hinein futtern, ohne dass man schräg angeschaut wurde.

Keine wirren Drehungen, die mich um meine sonst einwandfreie Koordination brachten,  keine Hebefiguren, bei denen ich mich fühlte wie ein tonnenschweres Walross und um Himmels willen bitte kein Tanz mit dem Elternteil des Tanzpartners.

Glücklicherweise waren unsere Eltern bei dieser kulturellen Festivität nicht eingeladen, sodass ich wenigstens Mum und ihrer Kamera hatte entkommen können und mich mein Bruder nicht noch in zehn Jahren an jeden Fauxpas, den ich mir an diesem Abend geleistet hatte, mit einem Beweisfoto erinnern konnte.

Genauso wenig machte ich mich vor Mr. und Mrs. Banks zur Lachnummer, denn sie würden schließlich auch nicht anwesend sein – zugunsten von Mr. Banks' Füßen und meinem Schamgefühl.

Nach der letzten Übungsstunde hatte mir Lia  ermutigend auf die Schulter geklopft und noch einmal gut zugeredet, bevor sie zurück ins Wohnzimmer verschwunden war, um die Scherben der Blumenvase, die ich ungalant mit meinem Hinterteil umgestoßen hatte, aufzukehren.

Kurzum: Ich war dem Untergang geweiht, wenn Banks nicht mindestens einmal amerikanischer Meister im Walzertanzen geworden war.

Meine Eltern wussten nichts von meinem Dilemma. Mum war, seitdem ich in meinem Kleid zum ersten Mal die Treppen nach unten  geschritten war, völlig aus dem Häuschen und konnte es gar nicht erst erwarten, dass endlich Samstag wurde - auch  wenn sie nicht einmal dabei sein würde.

Bis heute dankte ich dem Komiteemitglied, das diese Entscheidung getroffen hatte, denn bei meinem Glück würde Mum in Tränen ausbrechen und mich mit ihrem emotionalen Ausbruch vor meiner gesamten High School in derartige Verlegenheit bringen, dass das Land zu verlassen als keine abwegige Idee erschien.

Vermutlich erinnerte ich Mum sehr an sich selbst in ihrem letzten Schuljahr und wie sie damals mit Dad zusammen zum Abschlussball gegangen war. Langsam bekam ich Angst, dass Madame Deváns Worte vielleicht doch gar nicht so verkehrt waren wie ich anfangs angenommen hatte.

RachegöttinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt