Halte mich.

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Neugierig schielte ich über den Rand meines Bierglases hinweg. Soeben hatte ein mir Bekannter die kleine Bar betreten, die mein Stammlokal geworden war. Ich hatte mich erst vor weniger als einem Jahr in der kleinen Stadt in Wisconsin niedergelassen und die kleine, aber warm eingerichtete Spelunke hatte es mir angetan. Früher hatte ich Bars hauptsächlich aufgesucht, um mich zu betrinken. Alkohol war früher meine einzige Möglichkeit gewesen, alle meine Taten, mein Leben, für eine kurze Zeit zu vergessen. All dies hatte ich jedoch nun hinter mir gelassen. Die Apokalypse war verhindert, die Dämonen in der Hölle, die Monster im Fegefeuer, alle waren dort wo sie hingehörten. Ich hatte lange suchen müssen, um meinen Platz zu finden. Doch ich glaubte, hier endlich einen Treffer gelandet zu haben.

Ich hatte mich eingelebt und die anderen Einwohner der kleinen Stadt kennengelernt. Ich war schnell in die Gemeinde aufgenommen worden und hatte gute Freunde gefunden. Mit meinem alten Leben hatte ich abgeschlossen. Holte es mich nun ein?
Denn das Gesicht, den Trenchcoat, die unordentlichen schwarzen Haare und die schlecht gebundene Krawatte waren mir nur allzu vertraut. Der Anblick meines alten, himmlischen Freundes ließ mein Herz automatisch höher schlagen, doch wusste ich nicht, ob ich mich freuen sollte. Castiel sah sich nicht um, er ging ohne Umschweife zum Tresen und sprach mit dem Barkeeper. Dieser nickte und griff sich ein Glas aus der Vitrine hinter ihm. Ich staune nicht schlecht, als er wenig später Cas ein randvolles Maß Bier vor die Nase stellte und der Engel es in einem Zug leerte. Früher hatte der trenchcoattragende Soldat Gottes weder von Speisen noch von Getränken etwas wissen wollen, durch sein Mojo hatte sich seine menschliche Hülle dauerhaft selbst regeneriert.

Ohne mein Zutun öffnete sich mein Mund, als Castiel das Glas absetzte und allem Anschein nach direkt ein zweites bestellte. Nun fielen mir auch die ganzen kleinen Details auf, die sich an ihm verändert hatten. Seine Haltung war nicht mehr so gerade, wie sie es immer gewesen war. Sein Rücken war gebeugt und er wirkte nicht mehr, als hätte er einen Besenstiel verschluckt. Seine Ausstrahlung schien sorgenvoller geworden zu sein. Sein Trenchcoat war dreckig und wies einige Verschleißspuren auf. Außerdem machte er einen müden Eindruck. Engel wurden nicht müde. Genauso wie sie nicht tranken und mit Gefühlen nur in den seltensten Fällen etwas anzufangen wussten. Was zur Hölle war da los?
Ich war mir unsicher. Sollte ich ihn amsprechen? Zum einen war ich mit dem übernatürlichen Teil meines Lebens fertig, zum anderen sah ich in Cas aber einen mir wichtigen Freund, dem es offensichtlich nicht gut ging.
Mein innerer Kampf währte nicht lange, dann stand ich auf und schlenderte zu dem Engel.

„Hi Cas. Was machst du hier?", fing ich plump ein Gespräch an. Er zuckte zusammen.

„Dean?", fragte er dann leise. Verdammt, er hatte sich verändert. Seine Stimme war rau, und zitterig, und hatte nichts von ihrer früheren Stärke und Überzeugungskraft. Dann drehte er sich zu mir. Ich erschrak. Seine Augen waren rot unterlaufen und Spuren von Tränen zogen sich über seine Wangen. Was war bloß mit ihm passiert?

„Wow, Cas, wie siehst du denn aus? Ist alles in Ordnung?" Innerlich verpasste ich mir eine Ohrfeige. Sehr sanft und taktvoll bist du vorgegangen, Dean Winchester.

„Ich glaube nicht.", flüsterte mein Gegenüber, während er sich das nächste Glas Bier, dass der Keeper ihm vor die Nase stellte, griff. Bevor er das nächste Maß exte, schnappte ich mir den Henkel des Glases und zog es ihm aus der Hand.

„Woah, Cas, du betrinkst dich nicht in meiner Anwesenheit! Was ist passiert?"

Castiel unterbrach den Blickkontakt und studierte stattdessen den Holztresen.

„Du verstehst das nicht, Dean."

„Dann erklär es mir. Ich kann nicht einfach die Tatsache übergehen, dass du auf einmal hier in meiner Lieblingsbar auftauchst, offensichtlich völlig am Ende und in der festen Absicht, dich ins Koma zu saufen, während ich dich quietschfidel im Himmel vermute."

Er sackte noch ein wenig mehr in sich zusammen. Etwas tropfte von seinen Wangen auf den Tresen. Er hatte zu weinen begonnen. Vollkommen lautlos, und dennoch verdeutlichten seine Tränen mir seinen stummen Hilfeschrei.

„Okay. Wenn du hier nicht reden willst, dann kommst du mit zu mir, und wir reden, wenn wir allein sind. Ist das ein Kompromiss?" Zu meiner Freude und Überraschung nickte Cas. Er stand langsam auf und schlurfte in Richtung des Ausgangs, ich folgte ihm aufmerksam. Sein Gang war schwerer geworden, zumindest schien es mir so.

Wir waren gerade draußen, als er stolperte. Er fiel, und blieb als Häufchen Elend im Dreck liegen.

„Cas, alles okay?", fragte ich erschrocken und beugte mich zu ihm nieder. Da krallte er sich in meinen Jackenärmel und schluchzte: „Sie haben mir sie genommen! Sie haben mir meine Flügel ausgerissen!" Dann vergrub er sein Gesicht an meiner Brust und weinte. Ich umfasste seinen Oberkörper und zog ihn in eine Umarmung. Er hatte keine Flügel. Nach und nach erreichte mich dieser Satz. Sie hatten ihm das genommen, was ihn ausmachte. Was ihn zu einem Engel machte, hatten sie - wer auch immer sie waren - ihm genommen. Eine Welle Zuneigung für meinen Freund erfasste mich, und zugleich Wut auf diejenigen, die ihm das angetan hatten.

„Hey, alles wird gut, Cas. Solange, wie dir deine eigenen Flügel fehlen, werde ich dir beim Fliegen helfen.", murmelte ich. Mir viel nichts besseres ein, was ich sagen konnte. Doch offensichtlich war es nichts Falsches, denn ich hörte ein leises „Danke".

Zu allem Überfluss fing es nun auch noch an, zu regnen. Dennoch machten weder ich noch Cas Anstalten, uns von der langsam schlammig werdenden Erde wegzubewegen.

Der ehemalige Engel krallte sich an mich wie ein Ertrinkender, ich hielt ihn fest. Hielt ihn irgendwie über Wasser.

Der OS ist von dem obigen Bild inspiriert. Den Künstler kenne ich leider nicht, dennoch gehen alle Rechte an dem Bild an ihn/sie/whatever. Im Deutschen gibt es zu wenige Pronomen. Entschuldigung dafür.

Destiel OSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt