Die existenziellen Mechanismen von Vermeidungsverhalten bei Regenschirmen

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Kapitel 8 Die existenziellen Mechanismen von Vermeidungsverhalten bei Regenschirmen

Im Zimmer schmeiße ich den PC als auch den Laptop an. Währenddessen werfe ich einen kurzen Blick auf Jeffs Bett und ich sehe, dass die Tüte mit dem Pullover verschwunden ist. Ein Fortschritt an der Entschuldigungsfront.

Ich nehme mir die Liste mit den Anmerkungen von Brigitta vor und schätze nach nur wenigen Seiten ein, dass ich dafür heute keinen Nerv habe. Die Szene, bei der das Liebespaar erneut zueinander findet, soll intensiver werden. Brigitta nannte es herzzerreißender und meint kitschiger. Ihr Wunsch ist mir Befehl. Herzzerreißend, wiederhole ich still. Ziemlich blutige Angelegenheit, wenn man mich fragt. Ob ich gute Horrorgeschichten schreiben könnte? Ich sollte es mal ausprobieren.

Ich versuche ein letztes Mal mich zusammen zu reißen, um wenigstens den Absatz zu beenden. Doch es fällt mir weiterhin schwer. Denk rosa, mahne ich mich an. Rosa. Rosa. Pink. Pink. Die beiden Farben murmele ich eine Weile vor mich hin und es wird zu einem Ohrwurm. Meine Augen schließen sich und ich denke an die Umgebungs- und Personenbeschreibung, die die Szene färben.

Ein weißes Auto, dessen Scheinwerfer die Straße in ein kühles Licht hüllt. Der laue Wind, der über erhitzte Wangen streicht. Ihr blondes Haar, was an diesem Abend durch Wind und Eile geformt ist. Sanft geschwungene Strähnen, die über ihre tränenbenetzte Wange streichen und dort haften bleiben. Die Lippen einen Hauch geöffnet, so, als würden sie jeden Moment die Worte formulieren, die sie schon so lange brennend und verzweifelt im Herzen trägt. Ihre feuchten Augen blicken zu dem Mann, den sie seit Kindheitstagen liebte und der sich nun anschickte für immer aus ihrem Leben zu scheiden. Sein letzter Blick gefüllt mit Trauer und Enttäuschung als die Worte einfach nicht von ihren Lippen perlen und so seine schlimmsten Befürchtungen bestätigten. Obwohl es Hoffnung war, die durch seinen Körper pulsierte als sich ihre bebenden Lippen sanft übereinander bewegen. Keine weiteren Worte und er wendet sich von ihr ab. Ihr Puls steigt als sie beobachtet, wie sich die samtbraunen Haare im Wind bewegen. Welch schweres Gefühl füllt ihr Leib als sie erkennt, dass nun die letzte Gelegenheit heran gebrochen ist. Sie durften die Chance ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen nicht verstreichen lassen. Zittrig, aber stark ist ihr Griff. Ihre schmalen Finger vergraben sich dem rauen Stoff seiner Jeansjacke. Flehend und bittend. Befreiend und beglückend, als er sich zu ihr umwand. Erst, als die blauen Augen des jungen Mannes von ihren Händen zu ihrem Gesicht wandern, beginnen die Worte aus ihrem Mund zu fliehen. Die unglaubliche Pein über seinen so ungeschickten Betrugsversuch. Die blinde Wut, die so grässlich Worte hervorgerufen hat. Das selbsthassende Gefühl als sie verstand, dass sie alleinige Schuld daran hatte, dass er fort gegangen ist. Die bittersüße Liebe, die sich in jeder ihrer Körperzellen sammelt und sich mit jeder einsamen Sekunde zu schmerzhaftem Vermissen wandelt. Es erfüllt ihr Leib und es umwindet ihre Seele wie tonnenschwere Ketten aus Stahl. Ohne ihn ist sie nicht frei. Das weiß sie nun.

Solche Worte zu formulieren, sorgt jedes Mal dafür, dass ich selbst ein reißendes Gefühl verspüre. Eine andere Person vermissen, egal mit welchem Hintergrund ist schwer. Unbewusst tastet meine Hand nach dem Portmonee in meiner Hosentasche und dann habe ich sie auch schon in der Hand. Ich weiß genau, was ich suche und blicke einen Augenblick später auf das zerknitterte Foto, welches hinter meinem Personalausweis versteckt ist. René. Das brennende Gefühl in meiner Brust wird zu einem Flächenbrand. Meine Brust pulsiert schmerzhaft und ich schiebe das Bild schnell wieder zurück, ohne es wirklich angesehen zu haben.

Ich tippe noch das letzte rührende Liebesflehen und greife nach der Flasche Wasser vor meinem Bett, weil ich das Gefühl habe, dass mir in den letzten Minuten und mit den letzten Worten ein flauschiger, rosafarbener Pelz auf der Zunge gewachsen ist. Fürchterlich. Ich überspiele den wahren Grund für das Verlangen aufzuhören. Ich habe normalerweise eine gut funktionierende Realitätsabwehr. Doch diesmal klappt es nicht hundertprozentig.

Between the Lines - The wonderful world of wordsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt