Oxytocins Werk und Cortisols Beitrag

1.8K 132 537
                                    

Kapitel 20 Oxytocins Werk und Cortisols Beitrag

„Was ist mit ihm passiert?" Die Überraschung in Kains Stimme weicht einer eigenartigen Beklommenheit. Lenas Blick haftet sich auf Renés Abbild.

„Ein abgelenkter Autofahrer. Er hat René angefahren." Die Einfachheit, mit der diese Worte über ihre Lippen perlen, treibt mir schmerzende Stiche durch den Leib. Lautlos gehe ich zu ihnen und nehme Kain die Bilder aus der Hand. Meins stecke ich in die Hosentasche und Renés stelle ich zurück auf die Kommode. Meine plötzliche Anwesenheit irritiert beide.

„Er wollte nur wissen, was passiert ist und ich weiß, dass du nicht gern darüber redest..."

„Oh, und deshalb dachtest du, du vertonst für mich den traurigen Erzählstrang? Lass es einfach!" Ihr Erklärungsversuch fruchtet nicht. Denn es ist egal. Der Sturm in meinem Inneren ist entfacht und er wütet. Heiß. Brennend. Schmerzhaft. Lena schnaubt.

„Er ist auch mein Bruder."

„Du hast ihn nicht mal kennen gelernt. Also tu nicht so, als würdest du irgendwas verstehen."

„Robin", mischt sich nun auch Kain ein. Ich blicke nicht zu ihm, sondern nur zu meiner Schwester. Lena weiß, dass Renés Tod ein rotes Tuch für mich ist. Doch selten reagiere ich derartig feindselig. Ich weiß nicht, warum es heute besonders quälend für mich ist. Warum es noch intensiver schmerzt. Vielleicht, weil es nicht irgendjemand ist, dem sie es erzählt hat. Ich wische die Gedanken daran beiseite.

„Du bist nicht fair", sagt Lena. Ihre Stimme vibriert. Ich habe sie verletzt. Doch gerade jetzt ist es mir egal.

„Das Leben ist so...komm damit klar..." flüstere ich, lasse die beiden im Wohnzimmer zurück und gehe in mein Zimmer.

Oben angekommen, bleibe ich mitten im Raum stehen. Mein Herz rast und trotzdem fühlt sich der Rest meines Körpers taub an. Fahrige ertaste ich das Foto in meiner Hosentasche.

Unfair. Lena hat Recht. Mit allem. Ich habe es nie wirklich verkraftet. Noch jetzt spüre ich die Angst, die Hilflosigkeit und die Wut, welche ich damals empfunden habe. Und sie fängt mich ein. Jedes Mal genauso intensiv, wie an diesem einen Tag. Sein Tod hat mich entzweigerissen und bisher habe ich es nicht geschafft, vollständig zu verheilen.

Ich starre auf einen imaginären Punkt im Nichts, während mich die Erinnerungen einholen. Es war warm. In der Luft lag der Geruch von frischgemähten Gras. Wir hatten gerade gefrühstückt. Cornflakes mit Schokomilch. So, wie es Helden nun mal am Liebsten mögen. Das Auto taubenblau.

Obwohl zwischen uns nur wenige Minuten lagen, war er der große Bruder für mich. Er war mein Mut. Er war mein Herz. Und manchmal auch mein Verstand. René war es, der ohne Schrecken auf das Abenteuer zu lief und ich folgte, weil ich wusste, dass mir mit ihm nichts passieren kann.

Nur ein einziges Mal folgte ich nicht.

René. Der Gedanke an meinen Bruder bedeutet Schmerz für mich. Auch nach 17 Jahren noch, denn ich habe das Gefühl, dass damals ein wichtiger Teil von mir verloren gegangen ist.

Kain folgt mir ins Zimmer. Ich bleibe aus Ermangelung weiterer Fluchtmöglichkeiten stehen und nicht, weil ich darauf Wert lege, mit ihm zu reden. Statt mich ihm zu zuwenden, beginne ich die ausgepackten Sachen von meinem Bett zu nehmen und zu verteilen. Die Klamotten gehören in den Kleiderschrank. Der Laptop auf den Schreibtisch. Ich lege sie in Reichweite ab, aber nicht da, wo sie hingehören.

Kain ist es, der diese hilflosen Versuche stoppt. Er stellt sich mir in den Weg, als ich zum dritten Mal die Position meines Laptops verändere. Ich weiche zurück, doch er lässt nicht zu, dass ich weit komme. Er greift meine Hand, hält sie fest, während er den Computer zurück auf die Kommode stellt, von der ich ihn gerade genommen habe.

Between the Lines - The wonderful world of wordsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt