24. Under The First Snow

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Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich auf den Körper, der keine 5 Meter entfernt von mir auf dem Boden lag.

Ein Mädchen schüttelte ihn die ganze Zeit wie besessen, und drückte auf die Wunde, die einfach nicht aufhören wollte zu bluten. Als würde er dann gleich wieder aufwachen.
Als würde das etwas ändern.

Meine Atmung ging stockend, mein Mund war offen.
Hatte ich geschrien? Ich wusste es nicht.
Ich konnte mich nicht erinnern.

„Ihr seid schuld! Es ist allein eure Schuld, dass genau das hier jetzt passiert!“

Sein rechtes Augenlid zuckte, die Worte kamen gepresst und schnell aus seinem Mund.
Tränen sammelten sich in seinen Augen, doch er versuchte sie weg zu blinzeln.
Bei jeder kleinen Bewegung die er machte, wichen alle ein Stück zurück.
Er musterte uns alle und nickte wissend mit dem Kopf.

„Ihr habt nichts getan! Nichts, nichts um mir zu helfen! Ihr alle, ihr wusstet wie scheiße ich behandelt wurde. Entweder, weil ihr selber die Täter wart, oder auch weil ihr nur dumm herum gestanden habt und nichts unternommen habt. Beides ist genauso schlimm, also Wehe es fühlt sich irgendwer weniger schuldig!“

Sein Blick wanderte über die Menge, an manchen blieb er länger hängen als an anderen.
Ich versteckte mich hinter der Person vor mir, als sein Kopf in meine Richtung schwänkte.

Er hatte recht.
Ich bin genauso schuldig, wie die Schläger Typen in der Gasse.
Ich habe nichts unternommen, ich hab es nicht einmal geschafft die Polizei zu rufen.
Ich bin einfach weg gerannt und habe ihn allein gelassen, ihn hilflos seinem Schicksal ausgesetzt.

Und jetzt?
Jetzt bin ich alleine, niemand der mich vor diesen Typen beschützt.
Nur, dass es keine Typen sind, sondern ein einzelner  Junge, dessen Name ich bis heute nicht weiß, und sein Schlag ist die Kugel, die mich mit einem Schuss töten könnte.

„Ihr habt mich herum geschubst, bespuckt und geschlagen. Was habe ich euch getan? Nennt mir eine Sache!“

Keiner gab eine Antwort.
Alle starrten nur auf die Pistole und dachten daran, wen sie wohl als nächtes treffen würde.

„Jemand muss ihm die Waffe weg nehmen“ hörte ich hinter mir eine Stimme flüstern „dann hat er nichts mehr gegen uns in der Hand“
Es klang so als wäre die Person fast neben mir, ich drehte meinen Kopf und sah wie dieser Jemand auf Liam einredete.
Es war ein Junge aus unserem Geschichtskurs, Liams Miene war komplett verfinstert.
Seine Knöchel traten schon weiß hervor, so sehr ballte er seine Hände zur Faust.
„Du könntest es schaffen, du müsstest nur schnell genug sein“ sagte der Junge.
Ich konnte es nicht fassen, was ich da mit hörte.

„Bist du bescheuert oder was? Willst du etwa dass er sich umbringt?!“
Zischte ich ihm entgegen bevor ich nach Liams Hand griff.

„Liam, lass es sein. Das ist reiner Selbstmord“ Ich versuchte Augenkontakt herzustellen, doch er starrte nur weiter nach vorn.

„Liam“

Er drehte den Kopf endlich in meine Richtung.
Tränen aus Verzweiflung und Wut hatten sich in seinen Augen gesammelt, ich sah wie sehr er seine Kiefer aufeinander presste.

„Er hat jemanden getötet Elena. Jemanden, der jemanden wichtig war. Danach wird er wieder auf so eine Person schießen“

Er beugte sich weiter zu mir vor, so dass ich seinen Atem an meinem Ohr spüren konnte.

„Ich will nicht dass du diese Person bist“

Völlig perplex sah ich ihn an, doch er lächelte nur.
Dieses sanfte Lächeln.
Dann nahm er ruckartig meinen Kopf in beide Hände, und küsste mich.
Ganz behutsam,
Spürte ich seine Lippen auf meiner Stirn.

Bevor ich das alles richtig realisiert hatte, war er schon aufgesprungen und hatte sich durch all die Schüler gebahnt.
Und dann.

Ein Schuss,
Ein Knall,
Schreie.

Immer und immer wieder. Doch die Geräusche um mich verstummten.
Alle rannten auf einmal panisch durcheinander, mehrmals wurde ich angerempelt.

Schüler lagen auf dem Boden, und so viel Blut.
So viel Blut, was sich über den ganzen Boden verteilte.
Als ich mich wieder gefasst hatte, stand ich auf und sah mich hektisch um.

„Liam?! Liam!“

Er lehnte an der Wand, die Hände auf seine Seite gepresst.

„Liam!“

Ich rief so laut ich konnte um die Massen zu übertönen.
Er schaute zu mir, doch seine Augenlider wollten nicht offen bleiben.
Ich rannte ohne Achtung durch die Schüler, wobei ich mehrmals fast umgeworfen wurde.

Ich war fast bei ihm,
Doch dann;
Etwas zog mich ruckartig nach hinten, stimmen redeten auf mich ein.
Ich wurde straff unter den Armen gepackt, meine Füße hatten keinen Halt mehr auf dem Linolium Boden, egal wie sehr ich versuchte sie dagegen zu stämmen.

Jemand schrie.

Ich verlor Liam aus den Augen, doch ich sah noch zwei Sanitäter die zu ihm kamen.
Der Junge mit der Waffe, war dann eben doch nur ein trauriger und enttäuschter vielleicht 15 jähriger Teenager, als er die Handschellen um seine Handgelenke bekam.
Irgendwann gab ich es auf mich zu wehren, und ließ mich von den Männern aus dem Schulflur führen.

Nach draußen.
Da wo wir alle hin wollten.
Das schreien verstummte, und erst jetzt bemerkte ich voller Erschöpfung, dass das alles aus meinem Mund kam.

Als wir über die Türschwelle gingen, stach mir das gelbe Absperrband sofort ins Auge.
Alles wurde von den Krankenwagen und Polizei Autos in ein blau - rotes Licht getaucht.
Jemand legte mir eine Decke um die Schultern, und sagte noch etwas zu mir.
Der erste Schnee viel vom Himmel, ich streckte die Hand aus und ließ eine Flocke darin ruhen, bis sie zerschmolz.
Und ich lächelte.
An einem Krankenwagen, und wartete auf meinen Dad.
Ab und zu beantwortete ich typische Fragen von Sanitätern.

Ich ließ meinen Blick über die Menge hinter dem Absperrband gleiten.
Dort standen Eltern, Lehrer, Schüler. Die Presse und einige Passanten.
Sie warteten alle auf Neuigkeiten, oder auf jemanden.

Doch meine Augen blieben hängen.
An einer Kapuze, die so tief ins Gesicht gezogen war, dass man es unmöglich erkennen würde.
Aber die besagte Person, drehte ihren Kopf.
Und da sah ich sie.

Diese unverwechselbaren Rehaugen.

Wie von selbst begannen meine Beine zu laufen, zu rennen.
Er tat es mir nach, und wir trafen uns noch vor dem schwarz - gelben Band.
Ich sprang ihm in die Arme, er fing mich und wir wirbelte einmal, vielleicht sogar zweimal herum.

Wir brauchten keine Worte.
Meine Arme die seinen Hals umschlungen, und seine, die sich um meine Taille klammerten;
Die Tränen, die in Bächen vor Freude unsere Wangen hinuter flossen, sagten alles.

All das, wofür es keine Worte gibt.
Unter dem ersten Schnee des Jahres.

And Her Heart Is Falling Apart Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt