Let the Darkness Rise

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„Mein Gott", stammelte Theodor, die Augen unglaublich weit und starrend hinter seinen Brillengläsern, als er das Massaker betrachtete.

Leonora konnte dem kleinen Wartungstechniker nur zustimmen. Ihr Mund wurde trocken bei dem Anblick und ihr Magen rebellierte. Anskar hatte furchtbar unter den Aspiranten gewütet und das Blutbad vor ihren Augen schockierte den Sukkubus mehr als sie sich eingestehen wollte. Theodor würgte, sah aus, als würde er sich jeden Moment übergeben. Sie konnte es ihm nachempfinden, schmeckte selbst Säure weit hinten in ihrem Rachen.

Der Anblick der verstümmelten, in der Kälte dampfenden Körper, erinnerte sie nur zu sehr daran, was sie die letzten Tage so vehement versucht hatte zu vergessen. Anskar war eine Waffe – eine schreckliche Waffe – und das hier ... das hier war gar nichts. Nichts im Vergleich zu dem Potential, das in ihm schlummerte. Er durfte niemals in die Hände von Walhalla fallen. Niemals. Auch wenn es bedeutete, dass sie ... dass sie...

Ihr Geist wanderte zu der kleinen Injektionspistole mit der Ampulle giftig-grüner Flüssigkeit in ihrer Manteltasche. Leonora trug sie immer nah an ihrem Herzen, so wie Anskar selbst. Die Injektionspistole enthielt den Tod – Anskars Tod – und das Versprechen, dass sie ihrem Vater gegeben hatte, hallte in ihrem Kopf wieder. Würde es wirklich hier, in diesem nach Scheiße und Blut stinkenden Hinterhof enden? Würde sie ihr Versprechen letztendlich doch noch einlösen müssen?

Sie warf einen Blick über die Schulter und auf Anskar. Es wäre einfach für sie die Injektionspistole hervorzuholen und Anskar in den Rücken zu fallen. Er war stark, doch sie war schnell, schneller als er. Vielleicht, würde er es noch nicht einmal merken, wenn sie die Pistole in seinen Nacken presste und abdrückte. Ein kleiner Stich, ein kleiner Schmerz, und sie hätte ihr Versprechen erfüllt. Vermutlich würde er noch lange genug überleben, um ihr die Flucht zu ermöglichen.

Selbsthass loderte mit einem Mal in ihr auf. Der Gedanke war fast zu schwer um ihn zu ertragen. Lieber wäre sie selbst gestorben, als Anskar zu töten. Sie wollte schreien, weinen, töten, ihren Vater und die Welt verfluchen – doch wozu? Hatte sie denn eine Wahl? Nein. Keine Wahl. Keine verdammte Wahl. Die hatte sie nie gehabt, nicht im Anbetracht was auf dem Spiel stand. Das einzige was zählte, war, dass Walhalla Anskar niemals zurückbekam, auch wenn es ihren Liebhaber sein Leben und sie ihre Seele kostete. Doch noch war es nicht soweit. Noch hatten sie eine Chance und sie würde verdammt sein, wenn sie sie nicht nutzte. Leonora schob alle Gedanken was sie vielleicht tun musste beiseite, als die demoralisierten Aspiranten wieder ihren Mut fanden, nun da ihnen lediglich eine Frau und ein kleiner Kerl mit Brille gegenüberstanden.

Ein Haufen echter Helden ...

Feuer loderte in ihren grünen Augen als sich ihr Blick auf den ersten Angreifer richtete, der sich seinen Weg zwischen den Körpern der Gefallenen bahnte und auf sie zustürmte. Der Hass wich jedoch schnell aus ihrem Blick. Der Junge konnte nicht älter als fünfzehn sein, wenn überhaupt, und hatte die eingefallenen Gesichtszüge und hohlen Wangen von jemandem, für den Hunger ein ständiger Begleiter war. Seine Kleidung war wenig mehr als Lumpen: ein Sammelsurium aus alter Winterkleidung und räudigen Fellen, die hier und da mit alten Plastiktüten und Klebeband geflickt worden waren.

Hatte dieses Kind denn eine Wahl, wenn es in einer Welt wie dieser überleben wollte? Es war nicht fair. Nichts von alledem war fair. Leonora zweifelte daran, dass sie in der Lage gewesen wäre, zu tun was getan werden musste, wenn nicht für seine Augen. In ihnen funkelte ein geradezu irrationaler Hass. Von der Art, mit der er die abgebrochene Bierflasche und den Knüppel in seinen Händen schwang, sah es auch nicht so aus als lege er besonderen Wert darauf, sie lebend gefangen zu nehmen.

Speichel flog von seinen Lippen als er schrie, „Stirb du Chimi-Hure!"

Die zerbrochene Flasche stieß nach ihrem Auge und es war das einfachste auf der Welt für den Sukkubus beiseite zu treten und dem Jungen den Griff ihres Stiletts in die Schläfe zu hämmern. Sie hoffte, dass das genug sein würde. Sie hoffte, dass sie ihn damit ausschalten und ihm eine Chance geben konnte noch etwas aus seinem Leben zu machen.

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