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Der geschundene Körper Gohrs lag einem gestrandeten Wal gleich am Rande des tiefen Sees, der sich unter dem Wasserfall gebildet hatte. Weißes Blut sickerte noch immer aus seinen vielen Wunden und mischte sich mit dem eiskalten Wasser. In der kargen Welt des Deutschlands von 2158 wäre ein solcher Fleischberg normalerweise ein wahres Festmahl für die vielen Raubtiere und Aasfresser, die am Fuße des Wasserfalls ihre Existenz fristeten. Dennoch wagte sich nichts und niemand an den Leichnam heran. Nicht im Anbetracht des Ungetüms, das sich bereits an ihm nährte.

Im Leben wie im Tod war der riesige Brut-Kriegsherr zäh und der Archetype brauchte ungewöhnlich lange, um sich das steinharte Fleisch und die noch härteren Knochen einzuverleiben. Gohr war wahrlich stark gewesen und würde den Archetypen nur umso mächtiger machen. Grässliche Wunden schlossen sich im schwarzen Körper der Bio-Waffe, als er das Fleisch und damit den genetischen Code seiner geschlagenen Beute in sich aufnahm.

Die Evolution raste nicht nur, sie überschlug sich beinahe, als alte Zellen von neuen ersetzt wurden, als Muskeln und Knochen brachen und sich auflösten, nur um durch stärkere und härtere ersetzt zu werden. Die dabei entstandene Hitze ließ den Archetypen dampfen wie eine frisch geschmiedete Waffe aus den Feuern der Hölle. Seine Muskelstränge schwollen mit neuer Kraft an und verhärteten sich, bis sie so widerstandsfähig waren, wie es einst Gohrs Fleisch gewesen war.

Es dauerte nicht lange, bis das dicke Eis unter dem stetig zunehmenden Körpergewicht des Archetyps beunruhigend zu knacken begann. Am Ende war nur noch Gohrs Hand übrig und selbst diese verschwand in einem großen, scharfzahnigen Rachen. Der Schlund schloss sich ohne zu kauen und verschwand als hätte es ihn nie gegeben. Für einen Moment stand die Bio-Waffe nur still da: eine massive und vage menschenähnliche Gestalt, umgeben von einer Korona aus Fangarmen, die sich zum Klagen des Windes wiegten wie hypnotisierte Schlangen.

Der gesichtslose Kopf der Kreatur drehte sich in Richtung Unterwaagen – und dutzende Augen öffneten sich überall am Körper. Alle richteten sich auf die wuchernde Stadt. Die Welt schien für einen Moment den Atem anzuhalten – dann setzte sich das Monster explosionsartig in Bewegung. Krallen und Klauen gruben sich in Eis und frostige Erde und der Archetype schoss mit sagenhafter Geschwindigkeit auf die Stadt zu. Tentakel schnellten immer wieder aus um ihn zu verankern und seine Masse mit zusätzlichem Schwung vorwärts zu katapultieren. Der Archetype rannte nicht: er flog über die karge, von Asche und Eis erstickte Steppe.

Die Verteidigungsanlagen Unterwaagens boten der Bio-Waffe kein Hindernis. Ohne langsamer zu werden hechtete sie über den sechs Meter breiten, von den Ausscheidungen und dem Dreck tausender Menschen verseuchten Burggraben, nur um sich wie ein übers Wasser hüpfende Stein von der Wehrmauer abzustoßen. Die beiden Wachmänner, die diesen Teil der Mauer patrouillierten, wussten nicht einmal, wie nahe sie in dieser Nacht dem Tod kamen. Sie dachten es wäre lediglich der Wind, der ihre Umhänge zum flattern brachte, nicht der Tod auf schwarzen Schwingen.

Es schoss über die Dächer und über die Straßen: ein Blitz aus lichtlosem Quecksilber, immer in Bewegung, niemals still. Mehr als einmal wurden Träumende aus ihrem Schlaf gerissen, als etwas Schweres auf ihr Dach hämmerte und Staub und Putz von der Decke rieselte. Einmal krachte der Archetype komplett durch das Dach eines Hurenhauses und ins Zimmer eines Freudenmädchens. Die Dirne und ihr Freier hatten nur einen Moment um beide in Panik wie am Spieß zu kreischen, bevor der Archetype einfach durch die Häuserwand brach und sich wieder auf den Weg machte. Er ignorierte eine Stadt voller Beute, getrieben von einem Verlangen, stärker als der immerwährende Hunger, der in seinem Inneren loderte wie Höllenfeuer.

Er erreichte das Schlachtviertel nur wenig später und kam auf demselben Dach zu Ruhe, auf dem Cannibal Jones Adolfs sadistischer Existenz ein Ende bereitet hatte. Der Körper des kleinen Meuchelmörders war noch immer hier – gebrochen und steif gefroren – und würde es vermutlich sein, bis irgendjemand Arbeiten auf dem Dach zu erledigen hatte. Die Leichen der Schlacht, die hier nur wenige Stunden zuvor stattgefunden hatte, waren alle fort. Ebenso wie alles, was man sonst noch zu Geld machen konnte. Die Aasgeier der Stadt hatten ganze Arbeit geleistet. Die Fell würden sich in den nächsten Tagen wohl nicht über den Mangel an Frischfleisch beschweren können ...

ARCHETYPE 2.0Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt