Sweet Dreams

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Leonora war kalt.

Bitterlich kalt.

Es war diese Kälte, die sie aus dem Morast finsterer Träume und verschwommener Erinnerungen riss. Sie regte sich, lag zusammengerollt wie ein Embryo auf ... irgendetwas. Es stank bestialisch und das Metall unter ihrer Wange war kalt und klebrig von irgendeiner widerlichen Substanz. Sie würgte, schmeckte Säure in ihrem Rachen und hätte sich übergeben, wenn sie nur die Kraft dazu gehabt hätte. Etwas flatterte über ihr – eine Plane? – und ein eisiger Wind leckte über sie und entriss ihrem Körper ein erneutes Zittern. Wo zur Hölle war sie? Und warum fühlte sie sich so schrecklich schwach und müde?

Ein Stoß ging durch ihr seltsames Vehikel und jemand schrie, „Pass mit deiner Mistkarre auf, du Vollidiot!"

„Tschudligung, Tschuldigung", entgegnete jemand über ihr.

Die Stimme kam ihr bekannt vor. Leonora blinzelte träge. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bevor ihr ein Name einfiel. Denny? Nein, das konnte nicht sein. Denny war tot. Benedikt hatte ihn umgebracht, hatte ihm das Herz mit diesem verdammten Laser ausgebrannt, den sie sich von Hel hatte aufschwatzen lassen. All dies ließ nur zwei Schlussfolgerungen zu: sie träumte entweder oder war ebenfalls tot.

Ihre Augen flatterten und trotz der nagenden Kälte schaffte sie es wieder in Morpheus Umarmung zu gleiten. Die Welt, die sich ihr öffnete, als sie die Augen schloss, war ein Ort der Lust und Gewalt. Blut war überall, regnete in heißen Tropfen vom trächtigen Himmel auf eine wogende Landschaft aus Körpern, die sich in Mord und fleischlichen Gelüsten verlor. Der ständige Wind war wie der Atem einer läufigen Bestie: heiß und feucht und voll von Verlangen. Blut reichte ihr bis an die Knöchel und wohin sie auch blickte, sah sie Gestalten, die sich im Rot suhlten wie im Schlamm. Einige Formen waren menschlich, andere gehörten Veränderten, waren die von Männern und Frauen und Dingen die beides und keines waren, von Tieren und Monstern, von Engeln und Dämonen. Wohin sie auch blickte kämpften die Gestalten miteinander, vögelten miteinander, töteten einander – oftmals alles zugleich. Eine dämonische Orgie aus Sex und Gewalt. Abstoßend und verlockend zugleich.

Vielleicht bin ich doch tot... tot und in der Hölle, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf.

Der Sukkubus in ihr wollte sich ebenfalls in dem Treiben verlieren, doch das, was Leonora ausmachte, wich von den Gestalten zurück und floh. Sie hetzte durch ein Meer aus Blut, bis die Landschaft aus Fleisch um sie herum von Dunkelheit verschlungen wurde und langsam eine andere Form annahm. Wartungstunnel und Korridore aus Beton, wie sie sie aus ihrer Vergangenheit kannte, nur Älter und von Verfall gezeichnet.

„Wir sind fast da", hauchte ihr jemand ins Ohr. Mit einer immensen Willensanstrengung schaffte sie es den Blick zu heben. Denny? Der Junk-Hunter trug sie grinsend durch die Wartungstunnel. Aber warum? Warum wurde sie von ihm getragen? Anskar? Wo war Anskar?

Die Grenzen zwischen Realität und Traum verschwommen einmal mehr, als eine Art Schott vor ihnen auftauchte. Ihre Augen schlossen sich und mit einem Mal stand sie wieder vor dem Eingang zur Wohneinheit ihrer Familie in Walhalla 23. Die Tür zu ihrem Zuhause. Ihre Hand reichte nach dem Handflächenscanner aus – und plötzlich war sie im Inneren, saß mit ihrem Vater am Tisch.

Ihr Vater ...

Heinrich Hagen war jedoch nicht, wie sie ihn in Erinnerung hatte, sondern wie er jetzt sein musste. Tot. Tot und verrottend. Sie wollte schreien, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Leonora war nur ein Passagier in ihrem eigenen Körper, aus dieser von einem Alptraum geschwängerten Szene der Vergangenheit. Sie erinnerte sich an diesen Abend. Ein Abend, an dem sie einmal mehr ihre Flucht besprochen hatten. Alles war so wie sie es im Gedächtnis hatte. Bis auf ihren Vater. Er trug denselben Anzug, in dem er Selbstmord begannen hatte. Ein Erbstück von Urgroßvater, liebevoll in Stand gehalten über Generationen. Nun war der Smoking jedoch zerfleddert und fadenscheinig. Hier und da zeigten sich feuchte Flecken aus faulendem Material und der süßliche Verwesungsgeruch, der von ihm ausging, drehte ihr den Magen um.

ARCHETYPE 2.0Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt