Der Abgrund ruft nach dem Abgrund

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Diesmal werde ich von einem von Breschnews Handlangern zurück zur Akademie gefahren – Dimitrij muss beim Genossen Generalsekretär bleiben. Eine wichtige Besprechung...

Die Fahrt erscheint mir endlos lang. Müdigkeit und Kälte kriechen selbst durch die warme Kleidung hindurch unter meine Haut und lähmen meinen Verstand. Meine Gedanken schießen von einem Thema zum nächsten, ein Erinnerungsfetzen nach dem anderen drängt sich in mein Bewusstsein, um mir letzten Endes einen wirren, grotesken Film aus den letzten Tagen, Monaten und Jahren zu präsentieren.

Als wir ruckartig zum Stehen kommen, erschaudere ich mit einem Mal. In meinem Kopf ertönt Becks Stimme: Das ist ein Störsender. Du bringst ihn heute Abend an der Lenin-Statue in der Auffahrt zum Hauptgebäude der Akademie an. Alles in mir sträubt sich dagegen, seinen Auftrag auszuführen; mich vom Feind herumkommandieren zu lassen. Aber im Moment muss ich mitspielen – und mir überlegen, wie ich Beck austricksen kann. Plötzlich kommt mir ein Detail in den Sinn, das mir beim Gehen in Breschnews Arbeitszimmer aufgefallen ist. Ein Schachbrett mit Figuren. Offensichtlich war die Partie bereits angefangen worden.

Nur noch ein paar Züge und ich gewinne, meinte Breschnew, als ihm auffiel, dass ich das Schachspiel beäugte. Unwillkürlich muss ich mich fragen, wie lange man üben muss, um genauso gut zu spielen wie er.

Draußen ist es dunkel. Nur die Statue in der Auffahrt, vor der wir zum Halt gekommen sind, wird vom Schein einer nahegelegenen Straßenlaterne schwach erleuchtet. Zum Glück blickt Vladimir Iljitsch in die entgegengesetzte Richtung – Lenins versteinertes, vorwurfsvolles Antlitz könnte ich im Moment definitiv nicht ertragen.

Mittlerweile wieder in meiner Uniform trete ich auf die Straße hinaus und lasse die Beifahrertür hinter mir zufallen. Ohne auch nur ein Wort mit mir zu wechseln, wendet der Fahrer den Wagen und tuckert in die nächtliche Finsternis davon. Seufzend runzle ich die Stirn, verschränke die Arme vor der Brust, trete an die Statue und schiele zu Lenin hinauf. Schlagartig wird meine Kehle trocken und meine rechte Hand scheint gänzlich zu einem Eiszapfen zu gefrieren, als sich meine Finger um den Störsender in meiner Manteltasche schließen. Mein Blick wandert ins Nichts, für einige Minuten starre ich nur völlig apathisch in die Ferne und versuche tief durchzuatmen. Es hat keinen Sinn, das Ganze ewig hinauszuzögern. Das Einzige, das ich damit erreichen werde, ist, mir am Ende eine Erkältung zu holen.

Es ist bereits spät, die Ausgangssperre hat theoretisch gesehen schon längst begonnen. Auch deswegen sollte ich mich lieber beeilen. Hastig gehe ich in die Hocke und betrachte kurz die niedrigen Büschchen, die zu Fuße des Sockels aus dem Schnee ragen. Vorsichtig schiebe ich einige Zweige zur Seite und lasse den Störsender mit geradezu chirurgischer Präzision zwischen den immergrünen Blättchen verschwinden.

„Was tust du da?"

Die Stimme lässt mich augenblicklich erstarren. Verdammt, lass dir bloß nichts anmerken! Ich balle meine Linke zur Faust, als hätte ich etwas in der Hand und führe sie ruhig an meine rechte innere Manteltasche, wo sich mein Feuerzeug und die Packung Selbstgedrehter befinden. Dann stehe ich auf, drehe mich um und verziehe das Gesicht, als wäre es doch eigentlich ganz offensichtlich, was ich hier mache.

Mir begegnen Sofia Pavlovnas skeptische, schwarze Augen, die mich wachsam mustern, als erwarte sie, dass ich sie jede Sekunde angreifen könnte. Sie hat die Hände vor der Brust verschränkt, man merkt ihr deutlich an, wie angespannt sie ist – die Anspannung vor einem Kampf. Das dürfte dann wohl die Gelegenheit sein, mein Schachspiel zu verbessern.

„Ich wollte eine rauchen, aber mir ist mein Feuerzeug in die Büsche gefallen", erkläre ich sachlich, greife in meine Manteltasche und präsentiere ihr kurz das kleine, glänzende Ding.

Strelok - Die SchützinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt