Der Kommandant des Verteidigungsaußenpostens Krepost Krasnova Yara - auf den bescheuerten Namen ‚Festung von Krasnyy Yar' für unseren mickrigen Außenposten ist er tatsächlich ganz allein gekommen - Wassilij Alexandrowitsch Leonidov ist ein Mann, der meiner Meinung nach nicht unbedingt über sonderlich viele Talente verfügt. Doch wenn ‚Wowatschka', wie seine Schreckschraube von Frau jeden Morgen durch den halben Wald plärrt, wenn sie ihn nach seiner morgendlichen Runde durchs Dorf zum Frühstück ruft, ein Talent besitzt, so ist es seine Brutalität. Und bei Gott, das ist er in diesem Moment wirklich.
Nachdem ein weiterer Dorfbewohner namens Timur und ich auch die anderen beiden Späher aufgespürt haben, ist Wowatschka nun damit beschäftigt, Informationen aus ihnen herauszupressen. Man munkelt, dass Leonidov als junger Mann an den Säuberungen unter Stalin beteiligt war und dass er seine... spezielle Vorgehensweise von dort hat. Nach all den Stunden in Wowatschkas Verhör ist jedoch klar, dass der Gefreite Beck die Wahrheit gesagt hat - sie haben alle drei keine Ahnung, warum ihr Hauptmann sie zum Spionieren auf die andere Seite geschickt hat. Sie haben einfach nur Befehle befolgt und verfügen über so gut wie keine nützlichen Informationen.
Doch Leonidov lässt nicht locker und so sitze ich im winzigen Funkraum der Polizeiwache und warte neben der Funkerin, Katja, darauf, dass auch der Kommandant endlich einsieht, dass seine Mühen vergebens sind. Betreten starren wir beide an die Decke, während aus dem Keller ab und zu gedämpfte Laute wie von wilden Tieren im Todeskampf zu uns dringen, bis plötzlich eine längere Zeit Ruhe herrscht. Wir haben einander nicht allzu viel zu sagen - im Allgemeinen hat mir im Dorf niemand allzu viel zu sagen. Aber das ist auch gut so, ich will einfach nur meine Ruhe haben. Mir reichen Ljoscha und Dima als Gesprächspartner aus, den Rest brauche ich nicht.
Gemäß Vorschrift muss das Kommando in Nowosibirsk sofort in Kenntnis darüber gesetzt werden, wenn es zu einer Grenzüberschreitung durch Angehörige des deutschen Militärs kommt. Allerdings lässt sich Leonidov Zeit - er hofft, dass er doch noch was aus ihnen herausbekommt und damit bei seinen Vorgesetzten glänzen kann. Meine Wenigkeit muss hier sitzen bleiben, weil er meine Aussage noch nicht aufgenommen hat, diese laut Protokoll allerdings benötigt wird. Habe ich schon erwähnt, dass Leonidov und ich uns nicht ausstehen können und keiner von uns einen Hehl draus macht?
Der einzige Grund, weshalb er mich nicht schon längst abgeknallt hat, ist Ljoscha. Er ist ein ehemaliger Oberst, hat den Bürgerkrieg, den Großen Vaterländischen Krieg und all die kleineren Konflikte danach überlebt. Mittlerweile ist er mit seinen 65 Jahren zu alt, um noch aktiv zu dienen, dennoch leistet er weiterhin seinen Beitrag für die Sicherheit seines Landes, indem er hier in diesem Außenposten lebt. Aufgrund seiner Verdienste für die Sowjetunion hat selbst so ein Vollidiot wie Kommandant Leonidov Respekt vor ihm und wagt es nicht, sich mit ihm oder mit seinem Schützling, also meiner Wenigkeit, offen anzulegen. Dementsprechend ist es in den letzten fünf Jahren zumeist bei solchen passiv-aggressiven Ausfällen geblieben. Mittlerweile habe ich mir jedoch auch selbst einen gewissen Ruf erarbeitet, sodass ich mir nicht sicher bin, ob Leonidov mich überhaupt noch töten würde, selbst wenn Ljoscha nicht wäre.
Inmitten der Dorfgesellschaft ist dieser Ruf, der andernorts wohl als zweifelhaft zu bezeichnen wäre, ein Segen. Dass jemand wie Ljoscha freiwillig in einem - nennen wir die Dinge doch beim Namen - Gefangenenlager wie diesem hier lebt, ist die absolute Ausnahme geworden. Wer kann, lebt irgendwo weiter im Osten, fernab von den Deutschen, die in jedem beliebigen Augenblick mal wieder zum Angriff blasen könnten, oder zumindest in der Hauptstadt Nowosibirsk. Die meisten dieser Verteidigungsposten entlang des Obs sind darum nichts anderes als Strafkolonien und die meisten Dorfbewohner, wenn sie nicht gerade wie zum Beispiel Katja in der Polizeiwache arbeiten, sind Kriminelle - oder zumindest sind sie es in den Augen der Partei. Und eines wird sich in diesem Land niemals ändern: Die Partei, die hat immer recht. Wobei, einige von den Leuten hier sind echte Kriminelle. Diebe, Schläger, Mörder, Vergewaltiger... Also ich sage es ja, Ljoscha und Dima genügen mir als Umgang vollkommen, mit dem Rest muss ich nicht unbedingt etwas zu tun haben.
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Strelok - Die Schützin
Fiksi SejarahEine alternative Geschichtsschreibung: 1947 unterzeichnen das Dritte Reich und die Sowjetunion den Waffenstillstand von Moskau, womit der Zweite Weltkrieg in Europa ein Ende findet. Im Februar 1964 wird die 21-jährige Elisabeth in Sibirien als Agent...