Aurora behält recht, von der Kantine sollte man sich wahrlich nicht allzu viel versprechen. Schon allein der Speisesaal selbst spricht für sich – das Ganze schreit geradezu nach Bunker und liegt auch noch passenderweise im Untergeschoss. Ich meine, ich will mich nicht beschweren, immerhin muss ich mein Essen nicht mehr selber schießen. Andererseits wusste ich dadurch immer, was auf den Tisch kommt.
Schon bei unserer Ankunft fallen mir die feindseligen Blicke auf. Zwar will ich nicht behaupten, dass ich einen unheimlich sympathischen Eindruck erwecke, allerdings hätte ich mit solchen Reaktionen nun wirklich nicht gerechnet. Doch nach einer Weile fällt mir auf, dass diese Missgunst gar nicht so sehr mir wie Aurora gilt. Vermutlich hat sie also nicht übertrieben, als sie meinte, die Situation sei nicht so einfach für sie.
Mit unseren Tabletts in den Händen setzen wir uns gegenüber voneinander an einen der langen Tische. Der Buchweizengrieß sieht noch halbwegs essbar aus, das Fleisch dazu erscheint mir allerdings eher wie eine undefinierbare Pampe in heller Sauce. Ich habe großes Glück, dass mir die Nervosität noch immer so tief im Magen sitzt, dass ich keinen Appetit verspüre. Gedankenverloren stochere ich mit der Gabel in meinem Essen herum, ehe ich anfange, die Fleischstücke möglichst von der weiß-gelblichen Flüssigkeit zu befreien, um das Ganze überhaupt runterwürgen zu können.
Auf einmal legt Aurora ihre Hand auf meine, was mich ziemlich verdattert aufsehen lässt. „Hör mal, wenn's dir unangenehm ist, musst du nicht bei mir sitzen", raunt sie mir zu und deutet mit den Augen in Richtung eines Grüppchens in unserer Nähe, das uns ganz unverhohlen argwöhnisch mustert. Ich fixiere eine von ihnen mit meinem frostigen Blick, ziehe herausfordernd die rechte Augenbraue hoch und kräusle gleichzeitig die Lippen, um mein Missfallen deutlich zu machen. Wahrscheinlich überrascht von meiner Reaktion, blinzelt das Mädchen ein paar Mal und schaut dann schleunigst in die andere Richtung.
„Denen hat wohl keiner gesagt, dass es unhöflich ist, andere Leute so anzuglotzen", murmle ich und schüttle verständnislos den Kopf.
„Wie gesagt, die glauben alle, Nina und ich würden mit den Faschisten unter einer Decke stecken", wispert sie so leise, dass sie niemand außer mir hören kann, und zuckt betrübt mit den Achseln.
„Ich vermute, du wärst wohl kaum noch hier, wenn dem so wäre", schnaube ich. Doch schon im nächsten Augenblick realisiere ich, dass ich das auch wirklich so meine und ihr nicht nur etwas vormache. Bevor ich allerdings anfange, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, schüttle ich diesen lächerlichen Gedanken ab. Ich sollte weder ihr noch den starrenden Ziegen dort drüben noch sonst wem an diesem verfluchten Ort vertrauen.
„Danke", murmelt sie verlegen, ehe wir uns beide wieder unserem Essen zuwenden.
Nachdem ich mit dem Buchweizengrieß fertig bin, lasse ich den Rest dieses ‚schmackhaften' Mahls liegen. Aurora und ich räumen unsere Tabletts weg, dann machen wir uns auch schon wieder auf den Weg nach oben. Doch bevor wir die Treppen hinauf in den dritten Stock erklimmen, will sie noch am Empfang nachfragen, ob für sie Post gekommen sei. So wie bereits bei meiner Ankunft schielt die alte Dame hinter dem massiven Schreibtisch ständig zu mir rüber, in ihren Augen liegt dabei ein seltsamer, beinahe fiebriger Glanz.
„Entschuldigen Sie, Aurora, für Sie ist leider nichts angekommen", teilt die Frau ihr mit, ehe sie doch einen Brief hervorzaubert – ihn jedoch mir zuschiebt. „Für Sie ist der hier gekommen, Elisabeth."
„Wie haben Sie mich gerade genannt?", hake ich erstaunt nach und runzle verwundert die Stirn. Bilde ich mir das ein oder hat sie mich Elisabeth und nicht Jelizaveta genannt?
Für den Bruchteil einer Sekunde reißt Rita Michailovna die Augen auf, Furcht blitzt dabei überdeutlich in ihren grünen Iriden auf. Doch der Ausdruck verschwindet sofort wieder und sie setzt stattdessen ein herzliches Lächeln auf. „Na, Jelizaveta. Wenn es Ihnen lieber ist, kann ich Sie natürlich auch mit Vornamen und Vatersnamen ansprechen", antwortet sie ruhig und zwinkert mir ausgelassen zu.
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Strelok - Die Schützin
Fiksi SejarahEine alternative Geschichtsschreibung: 1947 unterzeichnen das Dritte Reich und die Sowjetunion den Waffenstillstand von Moskau, womit der Zweite Weltkrieg in Europa ein Ende findet. Im Februar 1964 wird die 21-jährige Elisabeth in Sibirien als Agent...