„Konzentrieren Sie sich endlich!", herrscht mich Nikita Danilowitsch lautstark an. Der Tag beginnt mit meinem Lieblingskurs - das Nahkampftraining mit meinem absoluten Lieblingslehrer. Wer hätte gedacht, dass ich in dieser Hölle auch mal ganz alltägliche Probleme wie Schulstress erleben würde?
Nach einer halben Ewigkeit endet die heutige Stunde. Doch mein Fluchtversuch gelingt nicht, Nikita Danilowitsch hält mich nochmal zurück. Mit vor der breiten Brust verschränkten Armen mustert er mich abfällig, ihm steht deutlich auf der Stirn geschrieben, dass ich seiner Meinung nach nicht hier sein dürfte. Nun, da wären wir schon mal zwei, die so denken. „Wenn das nicht besser wird, lasse ich Sie durchfallen, klar?", zischt er mich am Ende der Standpauke an, ehe er auf dem Absatz kehrt macht und in der Trainerumkleide verschwindet.
Seufzend mache auch ich mich auf den Weg, bevor ich noch zu spät zu meinem nächsten Kurs komme. Es war zu erwarten, dass ich mich nach der heutigen Nacht wie gerädert fühlen würde. Zusätzlich ist mein Hirn den ganzen Morgen bereits mit dieser komischen Nachricht beschäftigt. Warum hat Nina sowas ausgerechnet auf die Liste geschrieben? Von was für einem Verräter ist die Rede? Ein Verräter in den amerikanischen Reihen? Hat er die Liste womöglich längst an sich genommen? Und natürlich die Preisfrage: Wer ist EL und warum ist er so wichtig?
So versunken in meinen Gedanken, achte ich beim Umziehen nicht darauf, meinen Rücken von den anderen abzuwenden. Mein Körper ist... nicht unbedingt schön, um es nett auszudrücken. Während die Narben am linken Oberarm allerdings eher unverfänglich und selbst für das ungeübte Auge ganz klar als Kratzspuren zu erkennen sind, zeugt mein Rücken von ganz anderen Geschichten. Selbstverständlich habe ich kein großes Interesse daran, von allen wie ein Zirkustier begafft zu werden. Aber heute bin ich unachtsam.
Erschrocken schnappt Aurora neben mir deutlich hörbar nach Luft. Mit gerunzelter Stirn drehe ich den Kopf in ihre Richtung. Ihre Augen sind geweitet, auf ihrem Gesicht liegt ein Ausdruck blanken Entsetzens - und ihr Blick ist starr auf meinen entzückenden Rücken gerichtet. Sofort verhärten sich meine Züge, ich setze automatisch eine kühle, distanzierte Miene auf und ziehe die Augenbraue argwöhnisch in die Höhe.
Sie versteht die stille Warnung sofort. Dennoch schluckt sie deutlich merkbar und schielt aus dem Augenwinkel immer wieder zu mir rüber, auch wenn ich mich mittlerweile abgewandt habe. Ich schätze, ich kann froh sein, dass nur Aurora mich gesehen hat.
Als wir die Kabine verlassen, wartet gleich die nächste ‚angenehme' Überraschung auf mich. „War heute wieder nichts, was, Chernaja?", empfängt mich Anatolij. Lässig lehnt er an eine Wand im Korridor, die Hände in die Hosentaschen gesteckt und auf seinem Gesicht natürlich ein spitzbübisches Lächeln.
Mein Blick dürfte Antwort genug sein. Schmunzelnd löst er sich aus seiner Haltung und tritt vor Aurora und mich; die wiederum beäugt ihn doch recht erstaunt. Kein Wunder, er ist nicht nur der Kursbeste beim Nahkampftraining, er gehört zu den beliebtesten Studenten an der Akademie - im Gegensatz zu uns beiden.
„Du solltest wirklich üben. Nikita Danilowitsch meinte seine Drohung bestimmt ernst. Er lässt dich durchrasseln, wenn du dich nicht zusammenreißt", rät er mir.
„Inwiefern geht dich das was an?", erwidere ich und mache keinen Hehl draus, wie gereizt ich im Moment bin.
„Fühl dich doch nicht gleich so angegriffen", lacht er amüsiert und strahlt mich an, als hätte ich gerade einen hervorragenden Witz erzählt. „Kleiner Tipp am Rande: Die Leute reden gern. Wenn jemand glaubt, sich ständig verteidigen zu müssen, gibt das den Leuten noch mehr Anlass zum Reden. Und wenn manche Leute damit anfangen, kennt ihre Fantasie keine Grenzen."
Urplötzlich liegt die Warnung schwer wie Giftgas in der Luft. Wie von selbst verengen sich meine Augen zu Schlitzen, ich mustere Anatolij mit abweisendem, kühlem Blick. Wie genau ist sein Rat zu verstehen? Als Drohung? Oder tatsächlich als kameradschaftliche Geste? Wobei ich an den Kameradschaftsgeist an dieser Akademie nicht so recht glauben will...
DU LIEST GERADE
Strelok - Die Schützin
Ficción históricaEine alternative Geschichtsschreibung: 1947 unterzeichnen das Dritte Reich und die Sowjetunion den Waffenstillstand von Moskau, womit der Zweite Weltkrieg in Europa ein Ende findet. Im Februar 1964 wird die 21-jährige Elisabeth in Sibirien als Agent...