Kapitel 21 - Erinnerungen

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Noch völlig desorientiert von meiner Vision, schlug ich die Augen auf. Ich lag in Kyries Armen. Er sah mich besorgt an. Ich legte meine Hand an sein Gesicht und sagte noch etwas schwach: „Hey, nicht so gucken, das mag ich nicht!“ Auf seinem Gesicht erschien ein erleichtertes Lächeln. „Besser“, brummte ich zufrieden. Sein Grinsen wurde breiter. Ich löste meinen Blick von ihm und bemerkte, dass alle im Raum uns anstarrten. „Was ist denn los?“, fragte ich verwirrt. „Er lächelt nicht. Vor allem grinst er nicht!“, sagte Penny. „Hä, was wollt ihr denn, er macht das doch gerade?“, fragte ich immer noch etwas desorientiert. Moment mal, hatte Marenia nicht heute schon so etwas Ähnliches gesagt? Ach ja, sie meinte, dass er mindestens seit zehn Jahren nicht mehr gelächelt hat. Wieso eigentlich? Hmm, ich werde ihn das bei Zeiten mal fragen, wenn wir allein sind. „Okay, vergesst das, ich glaube, es ist wohl jetzt erst mal wichtiger, was ich in meiner Vision gesehen habe“, sagte ich nun nicht mehr so verwirrt.

Ich erzählte von meiner Vision. Als ich endete, war die Anspannung förmlich zu greifen. Niemand sagte ein Wort. Kilian war während meiner Erzählungen in einen erschöpften Schlaf gefallen. „Bist du dir ganz sicher, dass sie davor getrunken hat?“, fragte Luc, der etwas blass aussah. Ich nickte. Sein Blick ging zu Kyrie, der mich nicht mehr loslassen wollte. Kyrie nickte Luc zu. Dieser machte ein finsteres Gesicht. „Okay, bevor Kilian nicht aufwacht, können wir sowieso nichts mehr machen. Ich würde sagen, wir gehen jetzt einfach in unsere Zimmer zurück. Es ist heute viel passiert.“ Bei Lucs letztem Satz sah er mich noch einmal entschuldigend an. Ich stand auf und zog Kyrie mit mir. Ich nickte Luc zu und verließ den Raum.

Kyrie führte mich zu meinem Zimmer. Auf dem Weg dorthin schwiegen wir. Ich ging in mein Zimmer. Als ich bemerkte, dass Kyrie mir nicht folgte, drehte ich mich um. Er stand noch immer im Türrahmen, sein Blick war fragend auf mich gerichtet. „Kommst du nicht mit rein?“, fragte ich. „Willst du das wirklich oder sagst du das nur, weil es höflich ist?“, fragte er ernst. Ich zögerte nur einen Moment: „Ich möchte es, komm bitte rein.“ Er nickte und auf seinem Gesicht erschien schon wieder ein Lächeln. Ich ließ mich auf die Couch fallen und Kyrie kam zu mir. „Was hat das jetzt mit deinem Lächeln auf sich? Und wieso lächelst du nur bei mir, so wie ich das mitbekommen habe?“ Er setzte sich zu mir auf die Couch und ich sah, wie sich sein Gesicht verfinsterte. „Du musst mir das nicht erzählen, wenn du nicht willst“, sagte ich beschwichtigend und nahm seine Hände. Ein kleiner Rest seines vorherigen Lächelns umspielte noch seine Lippen, aber es sah nun traurig aus. Er holte tief Luft und sagte dann: „Nein, schon okay, es ist mir bisher immer falsch vorgekommen, fröhlich zu sein, seit …“, am Ende brach seine Stimme. Ich spürte instinktiv, dass er meine Nähe brauchte, also rutschte ich auf seinen Schoß und umarmte ihn. Es war nicht so, dass ich ihn nur umarmte, weil ich spürte, dass er es brauchte, nein, es war so, dass sich alles andere falsch angefühlt hätte. Ich wusste, dass ich in diesem Moment nirgendwo anders sein wollte als bei ihm, alles andere hätte mich innerlich zerrissen. Er lehnte seinen Kopf an meine Schulter und ich strich darüber. Dieser Moment kam mir intimer vor als alles, was ich bisher erlebt hatte, ich wusste, dass dieser Mann, der sich an mich lehnte, mir vollends vertraute. Wieso? Nur wegen dieser Gefährtensache? Ich weiß es nicht, aber in diesem Moment fiel mir auf, dass ich ihm auch vertraute. War das der Beweis, dass dies nichts mit der Verbindung als Gefährten zu tun hat? Immerhin war ich nicht mit ihm verbunden, nur er mit mir. „Seid was?“, flüsterte ich beruhigend zu ihm. Ich spürte, dass er sich bei dem Klang meiner Stimme entspannte. „Seitdem sie mir meine Familie genommen haben …“, seine Stimme war kaum noch zu erkennen, es war nichts mehr von dieser dunklen Tiefe zu hören, die mich so faszinierte. Er hörte sich an wie ein kleines Kind, das vor dem Abgrund stand, schwach, verletzt, verzweifelt. „Wer sind sie?“, fragte ich sachte. „Die Vampire, sie kamen, als ich noch ganz klein war, gerade einmal fünf. Sie sind gekommen und haben meine ganze Familie umgebracht, einfach nur aus dem Grund, weil sie Spaß daran hatten und weil unser Blut so berauschend für sie ist.“ Je mehr er erzählte, desto kindlicher klang seine Stimme. Auf meiner Schulter spürte ich, wie sich langsam, aber stetig eine Flüssigkeit ausbreitete – seine Tränen. „Ich kam von einem Freund nach Hause zurück, als ich Gelächter aus unserem Haus hörte. Es war nicht das Lachen meiner Eltern. Dieses Lachen hörte sich falsch und schmutzig an. Ich schaute durch ein Fenster, um zu sehen, was los war. Dort lagen meine Eltern und meine Geschwister. Sie waren blutüberströmt und sahen so unnatürlich still aus, wie sie da auf dem Boden lagen. Meine Mutter bewegte sich noch etwas und die Kreaturen, die vor ihr standen, lachten. Die Vampirin vor ihr sagte, dass der andere verschwinden solle, weil sie jetzt noch alleine etwas Spaß mit diesem erbärmlichen Ding haben wollte. Sie lachte laut los und bückte sich zu meiner Mutter herunter. Über ihre Schulter hinweg sah sie den anderen Vampir verächtlich an. Dieser verneigte sich vor ihr und sagte: Wie Ihr wünscht, Meisterin. Dann verschwand er. Die Vampirin sah zurück zu meiner Mutter und grinste sie dreckig an. Sie sagte zu ihr, dass sie nun viel Spaß miteinander haben werden. Das Einzige, was ich fühlte, war brennender Hass auf diese eine Vampirin, die sich an dem Blut meiner Familie gelabt hatte. Ich wusste nicht, wie es genau geschah, aber kurze Zeit später stand ich hinter der Vampirin, die mir alles genommen hatte, und stach ihr das Messer meines Vaters, das er mir vor ein paar Tagen vermacht hatte, ins Herz. Ich spürte, wie sie unter mir erschlaffte. Sie war so vollkommen damit beschäftigt, meine Mutter zu quälen, dass sie mich einfach nicht bemerkt hatte! Sie war zu berauscht von dem Gefühl zu töten! Ich sah meiner Mutter in die fast leblosen Augen. Ihr letztes Wort war: Stolz, bevor sie ihre Augen für immer schloss, bevor sie mich für immer verließ. Und dann war ich einfach nur noch allein da, umgeben von all diesen leblosen Körpern, die einst meine Familie waren. Ich wusste ganz genau, welche Vampirin ich umgebracht hatte, also wusste ich auch, dass ich schnell von dort wegmusste, weil ich sonst als Nächstes dran wäre. Ich wäre am liebsten in dem Blut meiner Familie zusammengesunken und hätte geweint, aber selbst das konnte ich nicht.“ Während er erzählt hatte, war seine Stimme immer schwächer geworden, jetzt war es nur noch ein Hauchen, was aus seinem Mund kam. Je mehr er erzählte, desto mehr hatte er sich an mich geklammert. Ich wusste, das Einzige, was ich jetzt tun konnte, war, so mit ihm zu sitzen und einfach für ihn da zu sein, während er diese schrecklichen Erinnerungen wieder durchlebte.

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