Kapitel 13 - Wiedererkennen

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Als wir in Ilianas Zimmer ankamen, war sie deutlich ruhiger, obwohl ihre Augen immer noch aufgerissen waren. Ich führte sie zum Bett und setzte mich mit ihr darauf. Ihr Blick war leer. Wahrscheinlich hatte sie noch das Gesicht von Wesley vor Augen. Verdammt, sie hätte ihn niemals zu Gesicht bekommen sollen! Wie um alles in der Welt hat sie überhaupt den Zahlencode gewusst? Den kennen nur Luc, seine Frau Marenia und ich. Okay, sie kennt ihn anscheinend jetzt auch.

Ilianas Sicht

Die ganze Zeit habe ich diese Augen vor mir. Augen, bei denen die Pupillen und Iriden fehlen, Augen, die einen nur als weiße Kugeln anstarren. Widerlich! Was war das für ein Ding? Warte, was hatte Kyrie dazu gesagt? Irgendwas davon, dass Luc und Wesley Brüder seien. Was ist mit Wesley passiert? Und wieso haben sie ihn hier eingesperrt? „Möchtest du schlafen?“, hörte ich Kyrie fragen. Er klang besorgt. Ich schüttelte heftig den Kopf, erstens, um seine Frage zu beantworten, und zweitens, weil ich diese Taubheit loswerden wollte, in der ich mehr und mehr versank. Kyrie schnaubte, wahrscheinlich hat das so ausgesehen, als ob ich nun völlig bescheuert aussehen würde. „Weißt du eigentlich, wie süß das aussah?“, man hörte das Lachen in seiner Stimme mitschwingen. „Was?! Du findest geistig verwirrte süß?!“ Nun konnte er sich nicht mehr zurückhalten und lachte lauthals. Wow, das ist das erste Mal, dass ich sein Lachen höre. Ich sah zu ihm, und auf seinem Gesicht lag ein Lächeln.

Die Straße scheint endlos. Obwohl die Sonne scheint, wirkt alles grau und trostlos, rastlos. Alles ist völlig ohne Farben, ohne Töne, ohne Gerüche. Ein Nichts, das mich umgibt. Dass mein Vater neben mir geht, ist ein so ferner Eindruck, dass ich ihn kaum bemerke. Ich gehe zielstrebig weiter, als ob am Ende der Straße etwas wäre, das ich unbedingt sehen muss. Ich kann an nichts anderes mehr denken, als weiterzugehen, ans Ende der Straße, ans Ziel, mein Ziel. Ich bin fast da. Auf einmal überkommt mich der Drang, nach rechts zu sehen. Ich kann nicht anders, ich muss es tun. Und was ich sehe, ist das Schönste, was ich je gesehen habe. Ein junger Mann mit einem Gesicht, das so schön ist, dass es einem Engel gehören könnte. Doch kein Engel könnte so eine Ausstrahlung haben. Kein Engel könnte so ein schönes Lächeln haben. Ich muss blinzeln, und auf einmal ist er weg. Und die Farben, Töne und Gerüche kommen mit einem Mal zurück und überwältigen mich.

Ich starrte Kyrie mit großen Augen an. „Du“, brachte ich erstickt hervor. Auf einmal hatte ich den Traum glasklar vor Augen. Aber nein, das war nicht nur ein Traum, das war eine Erinnerung! Ich kann es nicht glauben, wie konnte ich einfach nicht bemerken, dass er der aus meinen Erinnerungen ist. Er sah mich gleichzeitig besorgt und verwirrt an: „Was ist mit dir?“ „Du bist der aus meinen Erinnerungen.“, hauchte ich.

Es herrscht eine ganze Weile Stille, in der keiner die richtigen Worte zu finden scheint. „Wie genau sehen deine Erinnerungen aus?“, fragt er. Er sieht sehr geschockt aus. Ich erzähle ihm meine Erinnerung in jedem Detail. Als ich geendet habe, ist er blass. Was ist los? Sind die Erinnerungen schlimm? Kyrie geht derweil in meinem Zimmer auf und ab. Ohhh, wie ich so etwas nicht abkann. Ich stelle mich ihm in den Weg und stoppe ihn, indem ich meine Hände auf seine Brust lege: „Verdammt Kyrie, was ist los?! Was haben diese Erinnerungen zu bedeuten, dass du so am Rad drehst?!“ Er schluckt schwer, sagt dann jedoch: „Es ist nur ein Mythos, aber man ist sich nicht sicher, ob es doch stimmt, es gab schon immer viel zu wenige Visia, um das mit Sicherheit sagen zu können, aber diese Erinnerungen, die du geträumt hast, nennt man auch Versprechung, denn es heißt, wenn eine Visia ihren Gefährten zum ersten Mal sieht, brennt sich dieser Moment in ihr Gehirn ein. Das heißt, wenn die Versprechung kein Mythos ist, dann sind wir füreinander bestimmt, Iliana.“

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