Flucht

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John PoV

Als die Haustür hinter mir ins Schloss fiel, schlug mir eisige Kälte entgegen, was mich einen Moment erschrocken stehenbleiben ließ.
Deine Jacke, John. Du hast deine Jacke vergessen.
Resigniert verschränkte ich meine Arme vor dem Oberkörper, um irgendwie etwas Wärme einzufangen, doch die kalte Abendluft hatte sich schon längst durch mein dünnes Sweatshirt gedrängt.

Mit zusammengebissenen Zähnen drehte ich mich kurz um und sah nochmal auf die Haustür unserer Wohnung zurück, war fast dabei, sie erneut zu betreten und meine Jacke zu holen. Doch dank schüttelte ich genervt den Kopf. Du kannst da nicht einfach nochmal reingehen.

Mit einem lauten Seufzen wandte ich mich letztendlich ab, überquerte die Straße und hielt die Arme fest vor dem Oberkörper verschränkt. Ich wollte mich dagegen wehren, doch der Reflex, sich erneut umzudrehen und zum Fenster der 221b Bakerstreet nach oben zu sehen, war einfach nicht zu unterdrücken. Gerade verschwand ich in der nächsten Seitenstraße, da kam ich dem Drang nach, sah noch einen Augenblick zum erleuchteten Fenster zurück und in der Sekunde, in der ich aus dem Blickfeld verschwand, schien es fast so, als sei ein Schatten hinter dem Fenster davongehuscht.

Eigentlich wollte ich weiterlaufen, einfach nur weit weg, doch ich hatte keine Ahnung, wohin ich hätte gehen können. Sherlock.
Es war dunkel in den Straßen, vereinzelte Sterne funkelten am Nachthimmel über London, doch der Mond war von tiefhängenden Wolken und Nebel verdeckt. Mittlerweile musste ich meinen Kiefer angestrengt zusammenpressen, damit meine Zähne nicht klapperten, weshalb ich das nächste vorbeifahrende Taxi aufgeregt aufhielt, um gesehen zu werden. "Taxi ! Hier !", rief ich laut und wedelte dabei mit den Armen, während ich ein paar Schritte neben dem Wagen hereilte.

Als mich der Fahrer endlich gesehen hatte, schlug ich hinter mir die Fahrzeugtür zu, um die Kälte davon abzuhalten, mir zu folgen. Einige Momente saß ich schweigend in dem Taxi, dann ertönte ein leises 'Ping' aus meiner Hosentasche und ich zog mein Handy aus dieser, mit der Erwartung, eine Nachricht von Mycroft oder Lestrade bekommen zu haben, die mal wieder von Sherlock ignoriert wurden. Umso erstaunter war ich, als ich sah, dass die Nachricht von Sherlock selbst kam.

Sie haben ihre Jacke vergessen.
SH

Meinte Sherlock das tatsächlich ernst ? Natürlich hatte ich meine Jacke vergessen. Dachte er etwa, ich würde das nicht merken ? Mit einem enttäuschten Schnauben wollte ich mein Handy wieder wegstecken, da fiel die Visitenkarte der Bibliothekarin in meine Hand, die wohl an meiner Handyhülle geklebt hatte. Wie bereits am Mittag drehte ich die Karte ein paar Mal in meiner Hand, doch dieses Mal steckte ich sie nicht wieder weg. Was sollte es.
Nach zwei kurzen Klingeltönen nahm Vera ab:

"Chelsea Library, Vera Reynolds, wie kann ich ihnen helfen ?", erklang die warm klingende Stimme der zierlichen Dame an meinem Ohr.
"Hallo Ms. Reynolds, ich, ähm -" Das war eine dumme Idee, John. Du kannst doch nicht einfach die Geschäftsnummer einer Frau wählen und am späten Abend darum bitten, sie besuchen zu dürfen.
"John Watson, sie sind es ! Ich habe mich schon gefragt, ob sie noch anrufen werden.", unterbrach Vera die aufkeimende Stille jedoch sofort, sie schien meine Stimme direkt erkannt zu haben, während ihre eigene nun eine Spur aufgeregter klang, als zuvor. Sie war fast zu lesen, wie ein offenes Buch.

"Ja, ich bin es, Ms. Reynolds, entschuldigen sie bitte die späte Störung, ich bin nicht davon ausgegangen, sie so spät noch in der Bibliothek zu erreichen.", antwortete ich dann und lehnte meinen Kopf an die kühle Fensterscheibe des Wagens.
"Ach, ich war gerade auf dem Heimweg, wissen sie...", begann sie dann wieder, fast so angestrengt nachdenkend, dass es mir vorkam, als könnte ich förmlich sehen, wie sie mit den Schneidezähnen auf ihre Unterlippe biss. Gerade hatte ich antworten wollen, dass gar nichts los war, ich wollte nur noch einmal nach Mr. Hamilton fragen. Doch da hatte sie bereits weitergesprochen :" Sind sie in der Nähe, John ? Wir könnten uns bei einem Glas Wein unterhalten, wegen der Bücher, die sie auswählen wollten, natürlich."

Das alles sagte sie so schnell, dass mir nichts anderes übrig blieb, als kurz zu grinsen. Sie verhielt sich etwas wie ein aufgeregter Teenager. Du wärst blöd, das Angebot auszuschlagen, John. Wo willst du denn sonst hin ?
"Es wäre mir eine Freude, Ms. Reynolds.", antwortete ich also, nannte sie jedoch bewusst beim Nachnamen, obwohl sie mich zuvor bereits geduzt hatte. Ich war immer noch aufgewühlt und wollte nicht, dass sie das in irgendeiner Weise falsch interpretierte.

"Treffen sie mich vor der Bibliothek. Ich warte dort auf sie.", bekam ich dann eine erfreute Antwort, ehe Vera aufgelegt hatte und ich einige Sekunden ratlos auf das Smartphone in meiner Hand sah. Sie haben ihre Jacke vergessen. Idiot.
"Zur Chelsea Library bitte", erklärte ich dann dem ungeduldig gewordenen Taxifahrer unser Ziel, der daraufhin direkt losfuhr. Nachdenklich lehnte ich mich wieder zurück und beobachtete die verschiedenfarbigen Lichter, die an der Autoscheibe vorbeizogen, verschwommen durch das Kondenswasser, das auf der Außenseite der Scheibe hinunterlief.

Alles in mir fühlte sich, als wäre es am falschen Ort. Durcheinandergeworfen. Aufgewühlt. Was zur Hölle war vor wenigen Minuten mit Sherlock passiert ? Warum hat er Kekse gebacken ? Oder es zumindest versucht ? Warum hatte er so stark vom Thema abgelenkt ?
Diese Fragen beschäftigten mich, ließen eine Sorgenfalte auf meiner Stirn entstehen und die Hände nachdenklich ineinander verschränken. 
Doch als ich so in der Stille saß, nur hin und wieder die Motorgeräusche des Autos wahrnahm, drängten sich noch weitere Fragen in mein Bewusstsein, Fragen, die ich mit aller Kraft versucht hatte, im hintersten Winkel meines Bewusstseins wegzusperren.

Warum hat sich Sherlocks Brustkorb so warm angefühlt, obwohl er nach außen hin immer so kalt wirkte ? Was hatte es in mir ausgelöst, als er mein Handgelenk gepackt und so quälend langsam von sich geschoben hatte ? Warum war ich so verletzt, als er meinen Fragen ausgewichen ist ?

Ein resigniertes Seufzen entfuhr mir, als das Taxi langsamer wurde und direkt vor den großen Flügetüren des Bibliothekgebäudes hielt. Durch die Scheibe sah ich Vera davorstehen, eingehüllt in einen knallgelben Mantel und einen dunklen Schal, der so häufig um ihren Hals gewickelt war, das ich mich fragte, ob sie so überhaupt noch irgendetwas sehen konnte.

It is what it is - JohnlockWo Geschichten leben. Entdecke jetzt