Die offene Tür

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Sherlock PoV

Die nächsten Tage wurde es wieder etwas ruhiger in der Bakerstreet, auf den Straßen leuchteten überall bunte Weihnachtslichter durch den Nebel und die Kälte hielt Einzug, weshalb die alte Heizung unserer Wohnung voll aufgedreht war. Viel zu bringen schien dies jedoch nicht, denn John saß in seiner Jacke vor dem aufgeklappten Laptop, auf dem er am Küchentisch seinen Blog schrieb.

"Die trauernde Braut ? Diesen langweiligen Fall müssen sie doch nicht aufschreiben, John.", merkte ich mit zusammengezogenen Augenbrauen an, als ich mich auf dem Weg aus der Küche kurz etwas nach vorne lehnte, um die Worte auf dem hellen Bildschirm lesen zu können. John drehte sich etwas zur Seite :" Warum nicht ? Es ist ein sehr menschlicher Fall gewesen, er wird die Leser berühren... Ein Mann, der nur wegen des Geldes heiraten möchte und dann flieht, weil er es im Spiel gewonnen hat... Das möchte man doch keinem wünschen."

Bei dieser Erklärung wandte ich mich kopfschüttelnd ab und ging ins Wohnzimmer, mein dunkelblauer Morgenmantel war es, der mich selbst warmhielt. "Nein. Das wünscht man wirklich niemandem. Wäre er ermordet worden, wäre es definitiv interessanter geworden.", rief ich noch zurück, während ich nach meiner Geige griff und mich vor das Fenster stellte, von dem aus die ganze Straße zu beobachten war.

John antwortete nicht. Mittlerweile hatte er es aufgegeben, mich jedes Mal daran zu erinnern, dass der Tod nichts Schönes war, über das man sich freuen sollte. Besser so. Er wird mich eh niemals umstimmen können.
Es war nun vier Tage her, dass John mich umarmt hatte, hier, mitten im Wohnzimmer. Der kühle Kinnhalter meines Instruments erfüllte mich mit Ruhe und als ich den Bogen ansetzte, begannen meine Finger wie von selbst, sich zu bewegen. Ich brauchte gerade keine Noten zu lesen, das Stück, das ich spielte, kannte ich in und auswendig. Daher schloss ich meine Augen und lauschte der langsamen Melodie, die sich in der Wohnung ausbreitete, sie ausfüllte, ebenso, wie mich selbst.

Normalerweise, zumindest. Jetzt spielte ich konzentrierter, mehr auf die Technik fokussiert, als auf das Gefühl. Seit dieser Umarmung ist es anders. Irgendwas ist anders.
Unbeabsichtigt wurde die Melodie lauter und ein wenig drängender, während ich versuchte, die Gedanken aus meinem Kopf zu verscheuchen.
Gar nichts ist anders, Sherlock. Es war nur eine Umarmung. Eine. Das heißt nicht, dass du plötzlich fühlst, wie jeder andere verblendete Mensch da draußen.

Gerade begann ich, wieder langsamer zu spielen, mich zu beruhigen, da tippte mir jemand auf die Schulter und ich erschrak so sehr, dass ich ruckartig mit dem Spielen aufhörte und die Geige einen kreischenden Laut von sich gab, als der Bogen unsauber an der letzten Seite abrutschte. Noch während ich mich schlagartig umdrehte, einen angespannten Ausdruck auf dem Gesicht, erblickte ich John, der ebenso erschrocken wie ich es war hinter mir stand, die Hand im Schock noch immer gehoben.

"Sherlock, sie... Es hat geklingelt.", murmelte John vorsichtig, als er seine Hand wieder sinken ließ und mit der anderen über die Schulter zur Tür zeigte. Verdammt. Warum bin ich so erschrocken ? Es war doch nur John. Johns Hand. Auf meiner Schulter.
Ausatmend machte ich einen Schritt zur Seite und legte die Geige samt Bogen zurück. "Nun, möchten sie dann die Tür öffnen, oder sollen wir unseren Klienten draußen warten lassen ?", fragte ich abwesend, zog meinen Morgenmantel aus und vermied es, meinen Mitbewohner anzusehen.

Einen Moment sah dieser mich abwartend an, dann schüttelte er nur leicht den Kopf und öffnete die Tür, um die Treppen hinunterzugehen und den Klienten hereinzulassen. Meine rechte Hand rieb nachdenklich über die Stelle an meiner linken Schulter, an der ich noch immer die Wärme von Johns Fingern spürte. Das muss aufhören.
Sofort zog ich die Hand zurück, glättete mein Hemd und setzte mich in meinen Sessel, ein Bein über das andere geschlagen.

Abwartend saß ich so in der Wohnung und sah regungunglos zur geöffneten Tür, doch aus Sekunden wurden Minuten und mit jedem Ticken der Wanduhr zogen sich meine Augenbrauen weiter zusammen. Wo blieb John ?
Und wo kommt plötzlich diese Kälte her ? Die Heizung ist noch an... und diese Stille ?

Plötzlich sprang ich auf, rannte zur Tür und halb sprang, halb fiel ich die Stufen zur Eingangstür nach unten. Zur schwarzen Eingangstür der 221b Bakerstreet. Die Eingangstür, durch die John den Klienten hatte hereinlassen sollen. Doch jetzt stand sie sperrangelweit offen und weder John noch der Klient schienen in Sichtweite zu sein. "John !", rief ich laut auf die Straße hinaus, eisiger Wind blies mir die Haare aus dem Gesicht und ich musste die Augen zusammenkneifen, um etwas zu sehen.

Nichts. Gar nichts.

Panik machte sich in mir breit, ruckartig drehte ich mich wieder um, ließ meine Augen aufgebracht über den Boden und die Treppenstufen schweifen, um mögliche Spuren zu entdecken. John würde nicht einfach abhauen. Er hätte etwas gesagt. Warum habe ich nichts gehört ? Warum gibt es keine Spuren ?

Weder die Treppenstufen noch die Wände wießen irgendeine Veränderung auf oder Anzeichen, dass John nicht freiwillig gegangen war. "John ! Mrs Hudson !", rief ich erneut, noch lauter als zuvor, während ich mich zum Boden beugte und mich langsam im Kreis drehte, die Fingerspitzen fassungslos an die Schläfen gelegt. John. Nicht John.

"Sherlock, was machen sie denn für einen Krach ! Warum zieht es hier so ?", jammerte plötzlich Mrs Hudson, die ihre Wohnung verlassen hatte und nun im Flur erschien, die Arme zitternd vor dem Körper verschränkt. Doch das sah ich nur aus dem Augenwinkel, während ich weiterhin den Boden absuchte :" Es ist John. Er wurde entführt. Rufen sie Lestrade an."

Erschrocken sog die Haushälterin die Luft ein und schlug sich die Hand vor den Mund, was mich aggressiv aufsehen ließ. "Nun stehen sie nicht so hier rum und tun sie, was ich ihnen gesagt habe !", brüllte ich in ihre Richtung, obwohl sie das vermutlich nicht verdient hatte.
John muss freiwillig gegangen sein. Es gibt keine Kampfspuren. Er wurde nicht gezogen, gezerrt, er hat sich nicht gewehrt. Warum ?

Und dennoch war ich mir sicher, dass es sich um eine Entführung handelte. Es musste so sein, denn in diesem Augenblick bemerkte ich direkt neben dem Treppengeländer ein glänzendes Stück Papier, das auf dem Boden lag. Als ich mich bückte, um es aufzuheben, erkannte ich die Karte wieder, die John in der Bibliothek erhalten hatte.

Vera Reynolds

Clever, John. Clever.

It is what it is - JohnlockWo Geschichten leben. Entdecke jetzt