VII

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Ich wusste nicht, wieviel Zeit vergangen war, aber es fing schon an zu dämmern.

"Möchtest du immer noch auf den Friedhof Adriana?", fragte ich sie, während ich ihr über den Rücken strich. Ich spürte, wie sie an meiner Schulter nickte.

"In Ordnung", sagte ich und sie ging zurück auf den Beifahrersitz. Wir schnallten uns wieder an und ich startete erneut den Motor. Dann ging die Fahrt zum Friedhof weiter. Adriana versuchte sich wieder zu beruhigen. Aber ich wusste, sie würde wieder in Tränen ausbrechen, sobald wir am Grab ihres Bruders waren. Wir brauchten nur noch wenige Minuten, bis wir vor dem grossen, eisernen Tor waren.

Wir verliessen den Wagen und betraten die Stätte des Todes. Adriana schien den Weg zu kennen, denn sie schlängelte sich geschickt zwischen den Grabsteinen hindurch zu einem, der noch relativ neu war. Als sie ihn erreicht hatte, kniete sie sich davor hin. Ich schloss langsam zu ihr auf. Ich wusste nicht, ob ich stehen bleiben, oder mich ebenfalls hinknien sollte. Aber diese Entscheidung wurde mir abgenommen, als Adriana meine Hand ergriff und mich mit einem ziemlich starken Ruck auf die Knie riss. Für ein Mädchen hatte sie eine grosse Kraft.

Dann legte ich einen Arm um sie und sie lehnte sich an mich. Wieder fingen bei ihr die Tränen an zu fliessen.

„Es ist so ungerecht", sagte sie unter Tränen. Ich strich ihr den Arm auf und ab.

„Ich weiss... Ich weiss", sagte ich und seufzte.

„Aber sieh es so: Er ist an einem besseren Ort und wacht über dich. Wer weiss, vielleicht war er es ja, der mich gestern an den rechten Ort zur rechten Zeit geschickt hat", fügte ich hinzu und sah, wie Adriana ein Lächeln verbergen wollte.

Ich legte zwei Finger unter ihr Kinn und hob es so an, dass sie mich ansehen musste.

"Wer wird denn da sein bezauberndes Lächeln verstecken wollen?" Das liess sie nur noch mehr lächeln.

"Ist doch schon viel besser, oder?", fragte ich und sie nickte leicht. Dann schwieg ich eine Weile. Adriana lehnte ihren Kopf wieder an meine Schulter und entspannte sich ein wenig. Ich glaube, sie hatte sogar für einen Moment die Augen geschlossen. Ich sah mich, so gut es ging, ein wenig um. Hier befanden sich gefühlte Tausende Grabsteine, jedes anders als das daneben. Die Grösse, die Art, das Material, keines glich einem anderen. Dann regte Adriana sich und ich wandte mich wieder ihr zu.

"Möchtest du noch ein wenig allein sein?", fragte ich sie. Sie schüttelte den Kopf.

"Ich möchte wieder gehen...", sagte sie und sah mich an. Ich nickte. Dann half ich ihr aufzustehen. Wir gingen zurück zu meinem Wagen, als mir auffiel, dass es schon dunkel geworden war. Ich half Adriana beim Einstiegen, weil sie Schwierigkeiten hatte zu erkennen, wo sich der Türgriff befand. Als sie im Wagen sass und angeschnallt war, begab ich mich auf meine Seite, stieg ein und startete den Motor. Dann ging es zurück nach Hause.

Auf der Fahrt waren wir beide ruhig. Ich, weil ich fahren musste und Adriana weil sie eingeschlafen war. Sie schien zu träumen, denn manchmal zuckten ihre Augenlider. Ich fühlte mich auch ein wenig müde, aber ich musste wach bleiben, wenn ich nicht einen Unfall bauen wollte. Um die Zeit ein wenig tot zu schlagen machte ich das Radio an. Es wurde davon gesprochen, dass die Strassen am Highway umfahren werden sollten, da sich eine Kolonne und somit Stau gebildet hatte. Wer noch die Chance hatte, sollte einen anderen Weg wählen. Uns betraf das allerdings nicht. Wir mussten nicht über den Highway. 
Mein Haus war meilenweit weg von dort. Ich machte das Radio wieder aus, weil es mich mehr irritierte, als dass es mich wach hielt. Glücklicherweise dauerte es nicht mehr lange, bis wir zurück waren.

Vor der Garage angekommen stieg ich aus, ging zur Beifahrerseite und nahm Adriana auf meine Arme. Sie schlief mittlerweile tief und fest, daher trug ich sie in ihr Zimmer und legte sie behutsam auf das Bett. Ich wollte gerade gehen, als sie nach meinem Arm griff.

"Nicht gehen...", murmelte sie im Halbschlaf.

"Bleiben...", fügte sie müde hinzu.

Ich überlegte kurz, obwohl es gar nichts zu überlegen gab, und legte mich dann neben sie auf das Bett. Augenblicklich schmiegte sie sich an mich und umklammerte meine Beine mit ihren, als könnte ich es mir noch anders überlegen und wieder aufstehen. Ich schloss die Augen und fiel ebenfalls in einen tiefen Schlaf.

Als ich die Augen wieder öffnete schien von draussen die Sonne durch die Vorhänge. Ich wollte mich auf die andere Seite drehen, als mir auffiel, dass ich allein im Bett war. Sollte nicht Adriana neben mir liegen? Mit einem unguten Gefühl stand ich vom Bett auf, als ich ein gewaltiges Scheppern hörte, das aus der Küche kam. Ich eilte dahin und was ich vorfand, liess mich lachen. Diverse Topfdeckel und auch Töpfe selbst lagen auf dem Boden verteilt und Adriana sah mich wie ein Hund an, der weiss, dass er etwas verbotenes getan hatte. Als ich mich genauer umsah erkannte ich, dass sie versucht hatte, etwas aus den oberen Küchenschränken zu holen, ihr das aber missglückt war.

"Was machst du nur für Sachen?", fragte ich und musste immer noch leicht lachen.

"Tut mir leid... Ich wollte Frühstück machen... Aber du siehst ja das Ergebnis davon", sagte sie und fing selbst an zu lachen.

"Komm, ich helfe dir das Chaos zu beseitigen." Sie nickte und gemeinsam verräumten wir alles da hin, wo es hingehörte.

Ich übernahm es, die Töpfe und Deckel zurück in die oberen Küchenschränke zurückzulegen, Adriana räumte die Scherben von ein bis zwei Gläsern auf, die dabei ebenfalls auf den Boden gefallen waren. Allerdings geschah ihr das Missgeschick, sich beim Aufsammeln ab einer der Scherben zu verletzen. Der Schnitt war zwar nur sehr klein, aber das Blut floss in recht grossen Mengen aus der Wunde.

"Hier, drück das drauf", sagte ich und reichte ihr ein Taschentuch, um die Blutung zu stoppen. Adriana nahm es entgegen und drückte es auf ihre Handfläche. Ich räumte die restlichen vereinzelten Scherben weg und widmete mich dann Adriana und ihrer Verletzung.

"Gib mir deine Hand", sagte ich und hielt meine Hand hin, damit sie ihre in meine legen konnte. Als sie ihre in meine gelegt hatte, deckte ich mit meiner anderen Hand ihre Wunde ab. Dann schloss ich die Augen und konzentrierte mich.

"Was hast du vor?", fragte sie. Ich nahm an, dass sie mich ansah.

"Shhh, ich brauche Ruhe", sagte ich und versuchte mich weiterhin zu konzentrieren.

"Aber...", wollte sie wieder anfangen. Ich öffnete die Augen und sah sie an.

"Lass mich nur machen. Aber dafür musst du still sein, ich muss mich konzentrieren." Sie nickte unsicher.

Am Anfang der EwigkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt