05.12.

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Muschel

Fl0wer0fdarkness
(aus "Sommer Texte")

Sie rennt. So schnell wie der Wind. Dann bleibt sie stehen. Vor ihr liegt eine riesige Muschel. Sie ist schwer und sie muss sie mit beiden Händen packen um sie hoch heben zu können. Sie möchte ihr Fundstück abwaschen und steht bereits nach ein paar Schritten bis zu den Knien im Wasser. Sie geht in die Hocke, wodurch ihr rosafarbenes Kleid nass wird und ihr, statt ihr um die Beine zu wehen, an der Haut klebt. Dann wäscht sie die Muschel sorgfältig ab. Ihre kleinen Hände verlieren den Halt und die Muschel sinkt zu Boden. Auf keinen Fall möchte sie ihren Schatz verlieren und tastet aufgebracht den Sand danach ab. Plötzlich kommt eine große Welle und klatscht ihr ins Gesicht. Die Wucht des Wassers zieht ihr die Füße unter dem Körper weg und sie landet der Länge nach im Wasser. Schnell richtet sie sich wieder auf und beginnt zu lachen. Ein unbeschwertes Lachen bei dem einem Jeden das Herz auf geht. Dann entdeckt sie die zuvor verlorene Muschel neben sich im Sand, hebt sie wieder mit beiden Händen auf und rennt den Strand hoch. Ihre kleinen Füße sinken schnell im Sand ein und kommen dadurch kaum Vorwärts, doch das macht ihr nichts aus. Stolz präsentiert sie ihrer Mutter was sie gefunden hat. Sie versteht es erst nicht und lässt nur wiederwillig los, als ihre Mutter ihr die große gedrehte Muschel vorsichtig aus der Hand nimmt und ihrer Tochter bedeutet ganz leise zu sein. Die junge Frau hält dem Mädchen die Muschel ans Ohr und sieht zu wie sich langsam aber sicher ein breites Lächeln über ihr Gesicht zieht. „Mit dieser Muschel kannst du immer und überall das Meer hören" flüstert sie mit sanfter Stimme, während sie ihr ein Handtuch umwickelt und das Salzwasser aus dem Gesicht wischt. „Aber jetzt geht es erst mal nach Hause" fügt sie etwas lauter an, zieht ihre Tochter in die Luft, wirbelt sie zwei Mal im Kreis herum und setzt sie dann auf ihrer Hüfte ab. Das laute, vergnügte Lachen des Mädchens wandelt sich zu einem süßen Kichern. So treten sie den Heimweg an. Mit dem Rauschen der Wellen im Rücken und einer leichten Brise im Gesicht.

Sie rennt. So schnell wie der Wind. Rennt weg vor all ihren Problemen. Sie wird langsamer und fällt zu Boden, als ihre Knie weich werden und unter ihr wegknicken. Langsam setzt sie sich auf. So sitzt sie da. Die Arme um die Knie geschlungen, weinend, mit Blick auf das Meer gerichtet. Ständig hat sie das Gefühl dem Druck nicht stand halten zu können. Der Anspruch in der Schule steigt, und der Leistungsdruck mit. Aber auch ihre Ansprüche an sich selbst steigen und sie kann sie einfach nicht erfüllen, was sie auch tut. Andauernd macht sie sich Vorwürfe oder gibt sich die Schuld für alles. Wenn sie traurig ist kommt sie hier her. So auch jetzt. Sie nimmt die Muschel aus der Tasche und hält sie sich ans Ohr. Auch wenn sie das Rauschen der Wellen sowieso hören kann, genießt sie einfach das Gefühl des kalten Perlmutts an ihrer Haut und erinnert sich zurück an ihre unbeschwerte Kindheit. Dann weint sie. Sie weint so lange bis es ihr wieder besser geht. Schließlich wischt sie sich mit ihrem Ärmel das Salzwasser aus dem Gesicht. Der Mond steht bereits am Himmel als sie sich besser fühlt. Das Perlmutt der Muschel glänzt im Mondlicht wunderschön, doch die junge Frau betrachtet nicht sie. Ihr Blick gilt dem Mond und den tanzenden Fäden aus seinem Licht, welche auf der Oberfläche des Wassers zu schwimmen scheinen. Doch nicht nur ihnen, auch den tausend Sternen die den Himmel sprenkeln schenkt sie Beachtung. Er hat recht. Die Natur IST wunderschön!  Mit der Nacht war auch die Kälte über sie hereingebrochen. Langsam erhebt sie sich und klopft sich den Sand von der Kleidung ab bevor sie die Muschel in der Tasche ihres Anoraks verschwinden lässt und zitternd die Arme vor der Brust verschränkt. So tritt sie den Heimweg an. Mit dem Rauschen der Wellen im Rücken und einer leichten Brise im Gesicht.

Sie rennt. So schnell wie der Wind. Der Wind spielt mit ihren langen Haaren und ihre neue Lieblingskette klopfte ihr im Takt ihrer Schritte auf die Brust. Sie schreit. Dann hat er sie eingeholt. Er schlingt seine Arme von hinten um sie und sie stolpern. So liegen sie auf dem warmen Sand und lachen. „Wie findest du die Kette?" fragt er sie anschließend und deutet auf das Schmuckstück um ihren Hals. „Ich liebe sie" flüstert sie mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht bevor sie ihre Lippen auf seine drückt. Er hatte ihr den Anhänger aus einem Bruchstück der Muschel anfertigen lassen, welches abgebrochen war als die beiden zusammen zogen. Bereits seit vier Jahren waren die beiden ein Paar. Sie trafen sich während eines Aushilfsjobs, und bauten schnell eine enge Bindung zueinander auf. Sie sagen nichts mehr. Liegen nur nebeneinander im warmen Sand und sehen in den wolkenlosen Himmel, mit einem zufriedenen Lächeln auf ihren Gesichtern und die Hand des anderen haltend. Gnadenlos brennt ihnen die Sonne dabei auf die Haut. Plötzlich springt ihr Freund auf und rennt ohne mit der Wimper zu zucken, geradewegs in das kühle Wasser. Sie schlägt ihre Augen auf und sieht ihn mit einem verwirrten Blick von der Seite an, doch die Verwirrung hält sich nicht lange und weicht stattdessen einem lauten Lachen. Kurz darauf rennt auch sie ins Meer. Verspielt wie zwei kleine Kinder beginnt das Paar eine Wasserschlacht. Eine große Fontaine wird nach rechts gesandt. Lachen auf beiden Seiten. Dann verschwindet einer der beiden, woraufhin der andere unter Wasser gezogen wird. Noch eine Weile bekriegen sich die kleinen großen Kinder so im Meer. Schließlich trotten sie gemeinsam aus dem Wasser. Grau Wolken zeigten sich am Horizont und der Wind nahm stetig zu. Ihre nasse Kleidung klebt ihnen an der Haut und dennoch lächeln sie. Er ist ein glückliches Lächeln. Sie ziehen ihre Schuhe wieder an, welche sie am Strand hatten liegen lassen, und trocknen sich mit seiner Jacke, die ebenfalls im Sand lag, das Salzwasser aus dem Gesicht. So treten sie den Heimweg an. Arm in Arm mit dem Rauschen der Wellen im Rücken und einer leichten Brise im Gesicht.

Sie geht. So schnell wie sie es mit ihrem Alter noch kann. Den Strand entlang, an dem sie all die Jahre zuvor war. So vieles - eigentlich alles - hatte sich mit der Zeit geändert, doch der Strand blieb immer. Schon als kleines Kind hatte sie hier im Sand gespielt, kam als Teenager hier her wenn sie traurig war und machte mit ihrem Freund und später Mann lange Spaziergänge an diesem Strand. Unbewusst legt sie eine Hand an ihren Hals. Noch immer hängt dort die Kette mit dem Perlmutt Anhänger. Schon lange sah sie nicht mehr so sauber und neu aus wie sie es einst war, doch das zeigt nur wie gerne sie sie trägt. Auch die Muschel hat sie dabei. Nach all den Jahren ist auch sie nicht mehr in dem besten Zustand. An einigen Stellen ist etwas abgesplittert, andere sind einfach nur abgegriffen. Sanft fährt sie mit ihren zittrigen Fingern über die zahlreichen Windungen der Muschel. Ein kühler Wind weht und trägt ein Paar bunter Herbstblätter von nahe gelegenen Bäumen an den Strand. Es fröstelt sie und sie wickelt sich enger in ihre Jacke. Dann rollt eine erste Träne. Sie weiß selbst nicht wirklich wieso. Sie erinnert sich an all die guten und schlechten Momente. Ist glücklich und traurig zu gleich. Und sie lässt es einfach zu. Lauscht dem Wind wie er in den Blättern raschelt, den Wellen wie sie auf dem Strand aufschlagen. Schließlich wischt sie sich mit ihrem Ärmel die restlichen Tränen aus dem Gesicht und lächelt wie sie es schon immer getan hatte. So tritt sie den Heimweg an. Mit dem Rauschen der Wellen im Rücken und einer leichten Brise im Gesicht.

Entventskalender 2019Where stories live. Discover now