Kapitel 1

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Mit zitternden Fingern fuhr ich über das Bild, welches ich seither bei mir trug. Die strahlenden Augen meines Großvaters sahen mir entgegen und schienen die Freunde und Glückseligkeit des Moments widerzuspiegeln. Nie hätte ich damit gerechnet, dass mir dieser Mensch so sehr fehlen würde. Stets hatte ich versucht mein Bestes zu geben, um ihn stolz zu machen. Doch die Möglichkeit mit ihm darüber zu sprechen, würde ich nie wieder bekommen.
Eine Träne schlich sich aus meinem Augenwinkel und lief meine Wange hinab. Die Spur wirkte kalt und verstärkte das Gefühl der Einsamkeit mehr und mehr.

Eigentlich versuchte ich meine Gefühle immer so weit es ging zu kontrollieren. Doch in machen Momenten, so wie dieser einer war, konnte ich mich nicht mehr zusammen reißen. Erst vor wenigen Sekunden hatte ich mit meiner Mutter telefoniert, die mir unter Tränen vom schweren Unfall meines Stiefvaters erzählt hatte.
Seit dem Tod meines Großvaters war kein Mann jemals so wichtig in meinem Leben gewesen, wie mein Stiefvater es war. Er war einfach alles für mich. Er fing mich auf, wenn ich Halt brauchte; brachte mich zum Lachen, egal wie unangebracht es war; nahm mich auf, wie sein eigenes Kind. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass ausgerechnet er verunglücken würde. Die Trauer, die mich mehr und mehr überrannte, fühlte sich an wie tausende Messerstiche, welche mein Herz immer mehr verwundeten.

„Tamara?", die Stimme meines Verlobten drangen nur gedämpft zu mir durch, während ich weiter auf das Gesicht meines Großvaters starrte und mich dabei selbst fragte, wieso ausgerechnet diese Menschen mein Leben verließen. Selbst die schwere Schritte seiner Stiefel nahm ich nicht wirklich wahr, sondern wog mich in meiner eigenen Welt. Die äußeren Eindrücke spielten keinerlei Rolle für mich und rückten weiter in den Hintergrund. Nur die leichte Berührung an meiner Schulter fing mich auf, und gab mir das kleine bisschen Halt. „Liebling", flüsterte Tom und strich vorsichtig mein Haar zur Seite, um mir besser ins Gesicht zu sehen. Wahrscheinlich wusste er schon, was vorgefallen war, denn sonst wäre er niemals so früh nach Hause gekommen.

Normalerweise arbeitete er bis spät in die Nacht und verschwand früh am Morgen, um seinem Beruf nachzugehen, den er über alles liebte. Schon beim ersten Date hatte ich seine Leidenschaft für die Literatur und die Studenten bewundert. Denn ich kannte niemanden, der so in seiner Stelle aufging, wie Tom es tat. Für ihn war die Universität, an der er Literaturwissenschaften lehrte, sein Territorium und absoluter Rückzugsort.

Seine Hand strich über meine Schulter zu meinem Arm und zwang schließlich mich an ihn zu lehnen. Dabei bebte mein ganzer Körper mehr als ich es selbst kontrollieren konnte. Dennoch schien es ihn nicht zu interessieren, er nahm mich einfach in den Arm und schwieg. Tom wusste, dass solche Ausbrüche meinerseits häufiger vorkamen. Und mittlerweile konnte er damit besser umgehen als ich selbst. Er wusste, dass man nicht wirklich mit mir sprechen konnte, sondern lediglich körperliche Präsenz zeigen musste, um mich wieder zurück ins Hier und Jetzt zu holen. Und dass gelang ihm jedes Mal; so auch heute.

Mein hektischer Atem flachte immer weiter ab, bis ich schließlich normal atmen konnte. Dennoch liefen Tränen über meine Wangen, ob sie versiegen würden konnte ich selbst nicht sagen. Tom saß an meiner Seite und ließ mich wieder einmal wissen, dass er mein Fels in der Brandung war; mein sicherer Hafen.
Am Anfang unserer Beziehung waren wir uns nicht klar, wie es um uns stand. Streit stand meistens auf der Tagesordnung, genauso wie die tobende Eifersucht seinerseits. Doch egal wie sehr wir uns stritten und uns gegenseitig Kraftausdrücke an den Kopf warfen, unsere Liebe und die Beziehung zwischen uns verband uns. Er hatte mir stets vergeben, genauso wie ich auch ihm; wir konnten einander nicht lange böse sein.

Vorsichtig legte Tom seine Wange an meinen Kopf und begann mir beruhigend übers Haar zum streicheln. „Ich würde dir gerne sagen, dass alles gut wird", seufzte er, wobei sein Atem sanft über meine Haut strich. Mir war sofort klar gewesen, dass meine Mutter auch mit ihm telefoniert hatte, denn sonst wäre er niemals so früh nach Hause gekommen. „Sollen wir zu deiner Mutter fahren?", seine Frage hing in der Luft, wie die Trauer meinerseits. Ein Teil von mir war unglaublich dankbar für Tom, für seine Art mit mir umzugehen. Und dennoch fühlte ich mich, als würde der andere Teil von mir fehlen. Ich konnte mich nicht wirklich bewegen, jedes Körperteil tat mir weh und ich fühlte mich krank. Normalerweise versuchte ich mich von meinen Gefühlen zu distanzieren, sie nicht allzu sehr an mich ran zu lassen.

Tom schien nachzuvollziehen, dass ich mich nicht wohl fühlte und zog mich enger an sich. Diese kleine Geste gab mir Kraft; die Kraft, die ich gerade mehr als nötig hatte. Dankbar lehnte ich mich näher an ihn in der Hoffnung seine Wärme aufnehmen zu können.
„Wir sollten zu deiner Mutter fahren", murmelte er so leise, dass ich es beinahe nicht verstanden hätte. Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig, dennoch spürte ich seinen schnellen Herzschlag und das leichte Zittern seines Körpers. Nach und nach wurde mir dadurch bewusst, dass nicht nur ich litt. Auch Tom wirkte niedergeschlagen und müde. Er kannte meinen Stiefvater nun schon einige Jahre und hatte sich immer gut mit ihm verstanden.
Langsam drehte ich mich in seinen Armen und und blickte in die grünen Augen meines Verlobten. „Wie geht es dir damit?", fragte ich leise, dabei brach meine Stimme mitten im Satz. „Mach dir um mich keine Sorgen", ein aufgezwungenes Lächeln trat mir entgegen, während er mir über dein Rücken strich. Auch wenn er es nicht zugab, ich wusste, dass er genauso stark litt wie ich. Dabei versuchte er, es sich nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Anstatt erneut etwas zu sagen, dass die Situation hätte verschlimmern können, reckte ich ihm mein Kinn entgegen und platzierte einen sanften Kuss auf seinem Mundwinkel.

„Dann packen wir jetzt unsere Tasche", nachdem ich mich geräuspert und einigermaßen psychisch gesammelt hatte, sah ich Tom ins Gesicht. Dabei fielen mir die tiefen Augenringe auf, die nun deutlich auf seinem Gesicht hervortraten; auch seine Augen hatten jeglichen Glanz verloren, den ich sonst von ihm kannte. Nickend ließ er seine Hände von meinem Körper und half mir, mich aufrecht zu stützen. Seine Hände umfassten meine, während er mir tief in die Augen sah. „Ich würde dir gerne sagen, dass alles wieder gut wird", seufzend Schloß er seine Augen, ehe er mich wieder ansehen konnte, „aber das kann ich leider nicht." Er wirkte mitgenommen und weitaus geschwächter, als ich anfänglich angenommen hatte. Eine leise Stimme redete mir ein, dass da mehr als nur der Unfall meines Stiefvaters war, dennoch versuchte ich sie zu ignorieren.
Somit beschlossen wir unsere Taschen zu packen und einen kleinen Urlaub bei meiner Mutter zu machen, den ich hoffentlich noch Tränen und weitere Trauer überstehen würde.

Kingdom.	|| Bonez MCWo Geschichten leben. Entdecke jetzt