Kapitel 2

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Nach einer langen Autofahrt, die mich ziemlich viel Kraft gekostet hatte, konnte ich endlich die Beifahrertür des Autos öffnen. Die Sonne war schon vor einiger Zeit untergegangen und hatte einen grauen, mittlerweile fast schwarze Himmel hinterlassen. Dennoch wirkte die Luft klar, und gab meiner Lunge den nötigen Sauerstoff, der mir während der Autofahrt gefehlt hatte. Nun stieg auch Tom aus dem stickigen Auto aus, und gesellte sich zu mir. Wir hatten uns abgewechselt, damit nicht einer die lange Strecke zu meiner Mutter alleine fahren musste. Denn zehn Stunden Autofahrt waren alles andere als angenehm. Doch auch jetzt schien Tom immer noch abgelenkt zu sein; sein Blick hing in der Ferne.

„Lass uns reingehen", sagte ich schnell, um die leise Stimme in meinem Kopf zu ignorieren, dich sich auf der Autofahrt immer weiter bemerkbar gemacht hatte.
Irgendetwas stimmt nicht.
Genau diesen Satz hatte die Stimme immer wiederholt, egal ob ich es wollte oder nicht. Dennoch hatte ich Toms Hand, welche er zwischenzeitlich auf meinen Oberschenkel gelegt hatte, fast die ganze Zeit festgehalten.
„Ich hole die Tasche", Tom drehte sich augenblicklich auf dem Absatz um und steuerte auf den Kofferraum zu. Die Augenringe unter seinen Augen hatten die Schuldgefühle in mir weiter vorangetrieben. Eigentlich wollte ich nicht, dass er in diesem Zustand hinterm Steuer sitze musste, doch er hatte mich auch nicht fahren lassen. Seiner Meinung nach hätte keiner von uns fahren dürfen, aber er wollte mich unbedingt zu meiner Mutter bringen.

Ohne weiter auf ihn zu achten, auch wenn sich ein flaues Gefühl in meiner Magengegend ausbreitete, schritt ich über den gepflasterten Weg auf das Haus meiner Eltern zu. Die Rollläden waren geschlossen und verbargen das Innerste des Hauses vor der Nachbarschaft. Das war meinen Eltern schon immer wichtig gewesen, denn viele der Nachbarn empfanden Gerüchte und Vorurteile als ziemlich interessant. Sobald sich einer einen Fehltritt erlaubt, wusste die ganze Nachbarschaft davon. Meiner Meinung nach erfüllte das alle Klischees eines Vorortstädtchens.

Allerdings glich das Haus meiner Eltern auch den typischen Häusern in den Filmen, die ich früher immer mit meiner Mutter gesehen hatte. Die Fassade, welche mein Stiefvater regelmäßig pflegte, war sauber und ließ keine Vermutung auf jegliche Verschmutzung, die an den anderen Häuser klar sichtbar war. Der Vorgarten sah noch genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Der Rasen war geschnitten und auch die Hecke, sowie die restlichen Bepflanzungen wirkten wie frisch gestutzt. Es wirkte fast so, als hätte mein Stiefvater vorhin noch daran gearbeitet. Doch ich wusste, dass dem nicht so war.

Während ich den Weg entlang ging, innerlich hoffend dass die Situation zwischen Tom und mir sich bessern würde, öffnete sich die Haustür und meine Mutter erschien im Türrahmen. Ihr Körper war in einen beigen Bademantel gewickelt und ihre Haare wirkten umgemacht. Normalerweise würde sie sich niemandem so zeigen, denn sie trat stets gepflegt auf. Die Meinung von anderen spielte dabei allerdings eine nebensächliche Rolle. Denn meine Mutter liebte es, sich ordentlich und gepflegt zu präsentieren.
Dennoch wunderte mich ihr Anblick nicht, denn in so einer Situation wie sie grade bei uns auftrat, hätte das keiner von ihr erwarten können. Und auch wenn es eigentlich unpassend war, schlich sich dennoch ein Lächeln auf meine Lippen. Das Auftreten meiner Mutter strahlte pure Menschlichkeit aus, die man sonst nur selten zu Gesicht bekam.

„Liebes", das eine Wort meiner Mutter reichte aus, um mir erneut Tränen in die Augen zu treiben. Ihre Hände greifen nach meinen Armen und zogen mich in eine liebevolle und tröstende Umarmung. Auch wenn sie kleiner war als ich, spendete sie mir Sicherheit. Und das war genau das, was ich grade brauchte. Egal wie viel Trost und Liebe Tom versuchte mir zu schenken, nichts ersetzte die Verbundenheit zu meiner Mutter. Ich hatte vieles in meinem Leben mit ihr geteilt; viele Höhen und Tiefen. Ich verdankte ihr so viel, dass nichts auf der Welt es hätte wieder gut machen können.

„Es wird alles wieder gut." Die belegte Stimme ihrerseits war deutlich zu hören und veranlasste mein Herz sich schmerzhaft zusammen zu ziehen. Auch wenn mein Stiefvater jegliche Aspekte meiner Vaterfigur eingenommen hatte, war die Bindung zwischen ihm und meiner Mutter etwas besonderes. Meine Tränen und mein Schmerz waren minimal im Gegensatz zu dem Verlust, mit dem sie gerade zu kämpfen hatte. Plötzlich wurde mir bewusst wie egoistisch ich mich benahm. Eigentlich sollte ich meine Mutter in den Arm nehmen und ihr sagen, dass alles wieder gut werden würde. Ich sollte sie trösten und ihr Beistand leisten, denn schließlich lag ihr Mann gerade auf der Intensivstation und kämpfte um sein Leben; nicht meiner.

Schnell drückte ich meine Mutter fester an mich und atmete kontrolliert ein und aus, dabei versuchte ich meine Tränen wieder zu bändigen. „Es tut mir so Leid", flüsterte ich mit erstickterem Stimme, während ich mit meinen Händen über ihren Rücken strich, „Ich hätte bei dir sein müssen."
Mit einem sanften Kopfschütteln vernahm ich die Meinung meiner Mutter. „Du hättest nicht helfen können", murmelte sie leise, „die Hauptsache ist, du bist hier. Er wäre so froh dich zu sehen." Leicht drückte sie mich von sich und sah mir aus ihren braun-grünen Augen entgegen. Die Augenfarbe meiner Mutter war einzigartig und unbegreiflich schön. Schon oft hatte ich mit meinem Stiefvater darüber gesprochen. Seitdem sich seine Sehfähigkeit stark verschlechtert hatte, konnte ihr das was er an ihr am meisten liebte, nicht mehr deutlich sehen. Vor einiger Zeit hatte er mir vorgeschwärmt, dass die Augen meiner Mutter das schönste waren, was er je gesehen hatte. Zudem hatte er mir mit leicht zitternder Stimme erzählt, dass er das kleine Muttermal in ihrem einen Auge nicht mehr sehen konnte. Und genau das war es, was er an ihr so sehr liebte.

„Dennoch hätte ich da sein sollen", seufzend strich ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht ehe ich wieder in ihre tiefgründigen Augen. Mit einem kleinen Schnauben fuhr sie sich selbst durchs Haar, ehe sie sich komplett von mir löste. Sie wirkte mehr als nur erschöpft; ihre Augen hatten jeglichen Glanz verloren und die bläulichen Ringe zeichneten sich deutlich auf ihrem Gesicht ab.

„Komm erstmal rein", sie trat einen Schritt zur Seite, damit ich den Flur betreten konnte. Die Wärme, die mir entgegen strahlte, gab mir wieder das Gefühl von Zuhause, von der momentan fehlenden Sicherheit. „Danke", murmelte ich leise und schälte mich aus meiner leichten Strickjacke, die mir auf einmal vie zu warm erschien. Tom hatte mich dazu gedrängt mich warm einzupacken, denn bevor wir unsere Wohnung verlassen hatten, hatte ich nur noch gezittert. Dabei konnte ich nicht sagen, ob es an der Kälte oder an meinem Gemütszustand war. „Wenn du möchtest, kannst du schonmal in die Küche gehen", sagte meine Mutter und strich mir vorsichtig über den Arm, ehe sie sich wieder zur Tür drehte um meinen Verlobten zu empfangen.

Dieser trug unsere Reisetaschen in beiden Händen und setzte ein schmales Lächeln auf, als er mir ins Innere des Hauses folgte. Dabei wurde er beinahe überschwänglich von meiner Mutter begrüßt, die mehr als nur froh schien, ihn wieder zu sehen. Tom begleitete mich nicht oft zu meinen Eltern, stattdessen kümmerte er sich um die Arbeit oder verbrachte seine Zeit lieber allein. Anfangs war er fast jedes Mal mitgefahren, auch weil er mich nicht alleine fahren lassen wollte. Doch mit der Zeit wurde es immer weniger. Dennoch war das Verhältnis zwischen ihnen sehr gut, sehr familiär und liebevoll.

Ich wandte mich von ihnen ab und begab mich langsam in die Küche, in der meine Mutter fast schon ein ganzes Menü gekocht hatte. Dabei roch die Küche ebenfalls nach den ganzen kulinarischen Köstlichkeiten, die auf der Anrichte und dem Esstisch standen. Und auch wenn ich noch vor wenigen Stunden keinerlei Hunger verspürt hatte, schien sich das nun augenblicklich zu ändern. Die anfängliche Übelkeit war wie verschwunden, und der Hunger wuchs mit jeder Minute.
Meine Mutter trat hinter mich, wobei sie mit einer Hand über meinen Rücken fuhr. „Tom bringt eure Sachen nach oben", informierte sie mich, ehe sie an mir vorbei zum Herd ging, „wenn du möchtest, dann kannst du dich vor dem Essen frisch machen."

Ich schüttelte den Kopf. Vor unserer Abfahrt hatte Tom mich gedrängt duschen zu gehen, denn er wusste dass ich mich alles andere als wohl gefühlt hatte. Und meistens verbesserte sich mein Gefühlszustand nach einer Dusche. Allerdings hatte ich knapp 20 Minuten unter dem warmen fast schon heißen Wasser gestanden, dabei hatte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten können.

„Dann setz dich schonmal", wies sie mich mit ihrem Kochlöffel an, wobei sie mich aus meinen Gedanken riss. Nickend ließ ich mich auf einen der Stühle nieder und beobachtete meine Mutter, die am Herd stand und weiter in einem der Töpfe rührte. Sie wirkte ein wenig abgelenkt, was mir eine kleine Erleichterung war. Ich wollte nicht, dass sie darunter stark litt, auch wenn mir bewusst war, dass ich es nicht ändern konnte. Und das machte mich beinahe schon wütend. Generell konnte ich es nicht ausstehen, wenn die Menschen, die ich liebte, unter äußeren Einflüssen litten, die ich nicht beeinflussen und verbessern konnte. Am liebsten würde ich ihnen den ganzen Schmerz und alle Lasten abnehmen, auch wenn das bedeuten würde, dass ich darunter litt.

Für meine Liebsten würde ich alles tun.

Kingdom.	|| Bonez MCWo Geschichten leben. Entdecke jetzt