Kapitel 1

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Gerade umarmte ich meinen besten Freund am Flughafen. Sein Flug würde bald schon gehen. Die letzten fünf Jahre war er immer an meiner Seite. Ich konnte es immer noch nicht glauben, dass er nun von mir gehen sollte. Ok, er starb ja nicht. Aber die Kilometerzahl war enorm. Zwischen uns lagen Massen an Wasser. Zwar gab es Telefone, aber wie sollte ich es ohne ihn an meiner Seite aushalten? Damian war zwar manchmal echt durchgeknallt, aber dafür war er liebenswert und humorvoll. Er gehörte zu den beliebtesten Persönlichkeiten der Schule und ich hatte das Glück, sein bester Freund zu sein. Zum Glück war er nicht abgehoben. Ich war der Einzige, der ihn bis zum Flughafen begleiten durfte. Wir umarmten uns lange. 

"Ich hab dich echt lieb...", nuschelte ich gegen seine Collegejacke. Er lachte leicht: "Gleichfalls. Aber pass auf, wie du es ausdrückst. Am Ende schreien dich deine Eltern wieder an". "Dabei meinte ich doch nur, dass du mein bester Freund bist", lachte ich ebenfalls, während ich mir die Tränen verkniff. Selbst dann, als ich weinen wollte, brachte er mich zum lachen. Einen besseren besten Freund konnte ich mir gar nicht vorstellen. Warum musste sein Vater ausgerechnet jetzt woanders stationiert werden? Es war das letzte Jahr der Highschool! Das wurde nochmal extra schwer! Wäre es nur um ein Jahr verschoben gewesen, dann hätten Damian und ich auf das gleiche College gehen können und er müsste nicht mit seinem Vater ziehen. Er hatte ja keine Muter mehr, die mit ihm in Amerika bleiben konnte.

Er strich über meinen Rücken: "Pass auf dich auf. Vor allem mit Adam". "Der wird mich schon nicht verprügeln", versuchte ich uns beide aufzumuntern. Seine Stimme wurde mahnend: "Shiro". "Der hätte mich nicht geschlagen!", protestierte ich. "Er hat auch schon Jenny verprügelt ohne Gnade zu haben", warnte er mich, "Ich mache mir doch nur Sorgen um dich. Du weißt, dass du alles andere als schwach bist. Nicht nur in meinen Augen. Du hast eine starke Persönlichkeit. Aber halt nicht unbedingt die meisten Muskeln". "Ich arbeite dran...", murrte ich beleidigt. "Ist ja gut", lächelte er und löste die Umarmung. Sein Vater rief vom Eingang zu den Gates: "Damian, es wird Zeit". Er nickte und verabschiedete sich endgültig von mir: "Ich versuche dir mindestens monatlich Postkarten zu schicken". "Wie kitschig", rollte ich mit den Augen. "Tu nicht so, du stehst auf Klischees", grinste er und wand mir den Rücken zu, um seinem Vater zu folgen. Da rief er noch über seine Schulter: "Wir sehen uns, Milkyway". Ja, das war mein Spitzname für mich.

Eigentlich feierte ich es nicht so sehr, wenn er mich so nannte. Aber diesmal winkte ich ihm traurig hinterher. Sein Vater lächelte und winkte mir ebenfalls zu. Er sah mich als seinen zweiten Sohn an. Aber er stand nicht wirklich auf Verabschiedungen, daher war er am Flughafen mir gegenüber eher distanziert. Sie verschwanden in den Gängen und ich nahm meine Hand runter. Das letzte Mal hatte ich mich so leer gefühlt, als mein Hamster gestorben war. Nein... Das am Flughafen war schlimmer. Ich vermisste Damian jetzt schon richtig krass. Er war wirklich mein Bruder, den ich nie hatte. Schwer seufzend machte ich mich auf den Weg zu den Bushalten und fuhr dann zurück nach Hause. Das erforderte eine Menge umsteigen und Geld. Das opferte ich aber immer wieder gerne für Damian auf. Ich brauchte die neue Konsole nicht so dringend wie meinen besten Freund.

~~~

Am nächsten Tag ging ich nur schleifend durch die Schulgänge. Ich hielt an Damians Spind an und strich mit meiner Hand drüber. Plötzlich hämmerte eine Hand auf den Spind über meinem Kopf. Eine dunkle Stimme ertönte: "Was machst du da an meinem Spind?". Ich machte mir nicht mal die Mühe, ihn irgendwie ansehen zu wollen. Lieber schnaubte ich: "Das war der Spind von meinem besten Freund. Ich gehe ja schon". Gerade wollte ich gehen, da packte er mich am Kragen und fragte: "Ey, bist du dieser Shiro?". Ich ging wegen meiner schlechten Laune sarkastisch mit ihm um: "Nein". "Hm, kennst du ihn dann? Oder weißt du, wo er sich normalerweise aufhält?", fragte er weiter. "Was juckt dich das?", fragte ich gereizt. "Also wenn du schon so mit mir umgehst, dann brauche ich dir das nicht zu erzählen", er ließ mich los und ging. Mir kam die ungute Vorahnung, dass er wegen Chemie nach mir fragte. Ich wollte Damian wieder haben...

Die erste Stunde war Geschichte. Um Gottes Willen, wie sollte ich das denn überleben? Ohne Damian war alles so unglaublich langweilig. Passend dazu regnete es an dem Tag auch noch. Es hatte noch nicht mal gegongt, aber mein Kopf lag schon unmotiviert auf dem Tisch. Die gesamte Klasse war gelangweilt. Damian war eine Art Klassenclown. Nicht immer machte er Unsinn, aber er hatte stets gute Laune. Jeden Morgen kam er mit einem weiten Lächeln rein und grüßte alle freundlich. Nicht zu motiviert, sodass es einem auf die Nerven ging. Nein, er machte alles richtig. Hoffentlich ging es ihm in Australien gut. Die sollten eine gute Schulbildung haben. Dazu hatte er immer das Meer vor der Haustür. Sydney... Wehe, es ging ihm nicht gut. Es sollte ihn nur einer doof angucken und ich hätte mir ein Boot geschnappt und wäre quer über den Ozean gerudert! Und obwohl er mit Sicherheit woanders war, sah ich hoffnungsvoll zur Tür und wartete darauf, bis sein strahlendes Lächeln uns alle wecken würde.

Stattdessen kam ein anderes Lächeln rein. Wow... Den Typen hatte ich noch nie zuvor gesehen, aber sein Aussehen... Wir alle hoben interessiert unsere Köpfe. Ein Mädchen kannte ihn wohl: "Aurelian? Was machst du hier?". "Ich wurde in neue Kurse eingeteilt", lächelte er. Da erkannte ich die Stimme wieder. Es war der Typ, der nach mir gefragt hatte. Meine Vermutung war wohl wirklich richtig... Er redete weiter: "In letzter Zeit habe ich ja oft alleine arbeiten müssen. Jetzt wurde jemand frei und ich sitze in den Fächern... Warte...". Er kramte einen Zettel raus und las ihn vor: "In den Fächern Mathematik, Geschichte, Chemie und Drama mit dem Schüler Shiro Collins zusammen. Ist er schon hier?". Die gesamte Klasse zeigte sofort auf mich und ich sah unauffällig aus dem Fenster. Der Junge war verwundert: "Hä? Dieser Junge? Der hat mir heute morgen gesagt, er sei nicht Shiro". Alle lachten und ich bekam Kommentare ab: "Mach doch nicht solche Witze", "Das ist nicht mal lustig", "Du bist nicht Damian", "Man sollte keine Neuen verwirren". Fast stumm knurrte ich gegen die Fensterscheibe.

Ich vermisste Damian jetzt aber wirklich!

Mir kamen Schritte näher. Der Stuhl neben mir wurde vom Tisch gezogen und es wurde sich drauf gesetzt. Eigentlich ganz freundlich lächelte er mich an: "Achso, du wolltest dir also nur einen Spaß erlauben. Du hast mich nicht verwirrt, keine Sorge. Ich bin ja nicht zum ersten Mal auf dieser Schule. Mein Name ist Aurelian und bedeutet so etwas wie Gold. Welche Bedeutung hat dein Name?". "Was weiß ich?", brummte ich weiterhin die Fensterscheibe anstarrend. Er war ziemlich aufdringlich und kontaktfreudig. Wir kannten uns kaum und er fasste mich schon an der Schulter an: "Du hast offensichtlicher Weise schlechte Laune. Kann ich dich irgendwie aufmuntern? Schließlich werden wir ja jetzt so einiges an Zeit miteinander verbringen und vielleicht könnten wir Freunde werden". Ich fühlte mich angegriffen und fauchte direkt in sein Gesicht: "Denke nie im Leben, dass du mein bester Freund werden könntest!". Zurückgefahren hob er seine Hände: "Tut mir leid, das meinte ich gar nicht". Eine andere Mitschülerin klärte ihn auf: "Wunder dicht nicht, Aurelian. Sein bester Freund musste umziehen und jetzt denkt er, du würdest seinen Platz einnehmen". "Denke ich gar nicht!", rief ich laut, "Und halt dich da raus, Sarah!".

Die Lehrerin räusperte sich: "Shiro? Besteht Redebedarf?". Ich war so aufgebracht, dass ich mich wagte, auch sie anzufahren: "Ja, aber mit keinem von euch!". Es wurde still. Oh Junge... Das wurde ein langer Tag... Eine lange Woche... Ein langes, langes Jahr...


Oh Lord I'm GayWo Geschichten leben. Entdecke jetzt